Fragt man einen Araber, warum der Terrorismus und Extremismus, der sich heute in den arabische Ländern zeigt, in den 1950er und 1960er Jahren nicht existierte, würde die Antwort vermutlich auf den Kampf der doppelten Identitäten verweisen: arabischer Nationalismus und Islamismus. Nach dem Zusammenbruch des ersteren war es an den islamistische Bewegungen und Ideologien, die Leere zu füllen.
Das Scheitern des arabischen Nationalismus
Die Verschiebung hin zum Extremismus, dessen Zeuge wir aktuell sind, kam nicht über Nacht. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches trat ein Pan-Arabismus auf den Plan mit der Vision, die heterogenen Araber in einer einzigen Nation zu vereinen. Der Nationalismus war säkular, anerkannte aber das islamische Erbe und Kultur der arabischen Länder.
Als Gamal Abdel Nasser 1952 die Macht in Ägypten übernahm, wurde das Land zur geistigen Heimat des arabischen Nationalismus. Doch der aufkommende Enthusiasmus diese Identität erbrachte nicht die Freiheit, Entwicklung und Demokratie, die sich die Menschen erhofft hatten. Ein wichtiger Grund für den Niedergang der nationalistischen Ideologie war die arabische Niederlage von 1967 im Krieg unter der Führung von Ägypten gegen Israel, den Nasser als "die Schlacht um das Schicksal" angepriesen hatte.
Neuer Boden für Islamismus
Das Scheitern des Nationalismus und die Enttäuschung darüber gewährte Islamisten neuen Boden. In den frühen 1920er Jahren erlangten ultra-fundamentalistische Wahhabiten, die später den Begriff "Salafi" [1] usurpieren sollten, die Macht über die arabische Halbinsel, und in Ägypten wurde die Muslimbruderschaft gegründet.
Der Aufstieg dieser Gruppen schreibt der algerische Islamwissenschaftler Mohammed Arkoun zwei Gründen zu. Erstens fehlte es in den Zentren der arabischen Welt wie Baghdad oder Kairo an intellektuellem Vermögen; zweitens war eine einheimische arabische Geschäftsklasse, die kritische Haltungen wahrscheinlich unterstützen würde, von der Bildfläche verschwunden. Nach dem Sieg des Wahhabismus in Saudi Arabien 1924-25 und dem Anstieg des saudischen Energieeinkommens, erhielt radikales Denken vom Wahhabismus inspiriert, grosse Finanzierung und Unterstützung.
Mohammed al Zulfa, Schriftsteller und ehemaliges Mitglied im saudischen Shura-Rates, untersuchte die Verbindung zwischen den Ideologien des Wahhabismus und der Bruderschaft. Als Nasser und seine syrischen Alliierten anfingen, gegen die Muslimbruderschaft zu opponieren, so erklärt er, reisten ihre Mitglieder nach Saudi-Arabien, wo sie hauptsächlich in den Bereichen Bildung und Medien tätig waren und den Lehrplan in saudischen Schulen und Universitäten gemäss ihrer Doktrin umgestalteten.
Eine ähnliche Rolle spielt die Bruderschaft in den Golfstaaten. Ab 1973 begannen ihre Mitglieder in die Vereinten Arabischen Emirate abzuwandern, auf der Suche nach Jobs und um der politischen Verfolgung in ihren Heimatländern zu entfliehen. Dort gründeten sie "Al Islah" ("Reform"), einen Zweig der Bruderschaft, und begannen durch die Formulierung von Lehrplänen und die Kontrolle studentischer Aktivitäten in den Bildungssektor einzudringen. Laut Dr. Abullah al-Nafisi, ehemaliger Professor für Politikwissenschaften an der Kuwait University, gründeten Migranten mit Verbindungen zur Bruderschaft zudem in Kuwait und Katar örtliche Komitees, wo ihre Delegierten international Gelder zugunsten der Bruderschaft sammelten.
Die Islamische Revolution 1979 im Iran, auch wenn sie sich in einem nicht-arabischen Land ereignete, verstärkte die Anziehungskraft islamistischer Ideologie im Nahen Osten und Nordafrika. Doch war Khomeinis Regime schiitisch und der Ayatollah machte kein Geheimnis daraus, das saudische Establishment stürzen zu wollen.
Die saudische Bewegung "Erwachen"
Als Reaktion darauf investierte Saudi Arabien als Hüterin des sunnitischen Islam Milliarden Dollar, um die von Khomenei unterstützen Schiiten herauszufordern und zwar durch Verbreitung eines Islams der Marke "Wahhabismus".
Alle Aspekte der saudischen Gesellschaft, darunter Medien, Bildung und Frauen, erfuhren vehemente Härte. Die "As-Sawah" ("Erwachen") Bewegung, die ursprünglich ihren Anfang als sunnitische Antwort auf den Schiismus von Khomeini genommen hatte, dehnte sich jenseits der Religion aus: sie wurde zu einer politisch-islamischen Agenda, in der Wahhabiten junge Männer für den Dschihad in Afghanistan und anderenorts rekrutierten.
Zur Zeit des Sowjetkrieges in Afghanistan wussten die USA nichts über den Wahhabismus und Politiker im Westen betrachteten wahhabistische Dschihadisten als verfügbare Fusssoldaten um der Sowjetmacht entgegenzutreten. Die Unfähigkeit der USA, zwischen den islamischen Kämpfern zu unterscheiden, hatte fatale Konsequenzen, die durch den Umstand verschlimmert wurde, dass der Westen Afghanistan aufgab, nachdem die Russen vertrieben worden waren.
Schutz gegen Extremismus
Ein ähnlicher Fehler wird gegenwärtig in Bezug auf die Muslimbruderschaft in Ägypten gemacht. Nur weil die Muslimbruderschaft in einem fragwürdigen demokratischen Prozess gewählt worden ist, ist der Westen nicht davon befreit, die Ziele der Bewegung kritisch zu untersuchen. Wahlen und Demokratie sind nicht identisch; tatsächlich ist es oftmals unzureichend, Wahlen abzuhalten, ohne vorgängig die Säulen der Demokratie wie Meinungs- und Pressefreiheit, gesetzliche Gleichstellung, Eigentumsrechte und ein kritisch geprägtes Bildungswesen, das zu kritischem Denken ermutigt, zu entwickeln. Dass die neue ägyptische Verfassung von Islamisten ohne den Input von Liberalen, Linken oder Minderheiten verfasst worden ist, ist ein ernsthaftes Warnzeichen.
Versprechen sind keine Garantie gegen Extremismus. Einen besseren Schutz gegen islamistischen Extremismus bietet die Loslösung des Islam von radikalen Ideologien, indem zu aufgeklärter, rationaler Wissenschaft ermutigt wird. Mit einer Umgestaltung des Lehrplans von Schulen und Universitäten und der Einführung von Geisteswissenschaften auf dem Lehrplan in Ländern wie Saudi Arabien und Ägypten, wo beispielsweise vergleichende Religionswissenschaften und Philosophie gänzlich fehlen oder beschränkt sind, kann das erreicht werden.
Die Schriften islamischer Gelehrten aus dem Mittelalter, die den Pluralismus ablehnen, sollten im jeweiligen Kontext gelehrt werden; parallel zu Schriften moderner und aufgeschlosseneren Kommentatoren. Schiiten in Ländern mit einer sunnitischen Mehrheit muss Chancengleichheit gewährt werden und sie sollten das Recht auf das Studium gemässigter schiitischer Wissenschaft haben, die eine Trennung von Klerus und Staat bevorzugt. Das könnte arabische Schiiten vor der Ausnutzung durch das iranische Regime schützen.
Terrorismus kann nicht bezwungen werden, indem extremistische Anführer getötet und verfrühte Wahlen abgehalten werden. Die radikal-islamistische Ideologie muss analysiert und in Frage gestellt werden. Ansonsten findet der Kampf gegen den Terrorismus – besonders angesichts der drohenden Zerstörung des sunnitischen Syriens – kein Ende.