Der syrische Bürgerkrieg befindet sich nun in seinem dritten Kalenderjahr. Schätzungsweise mehr als 90'000 Menschen wurde seit Beginn der Aufstände getötet. Jeder einzelne Tod ist immer für Irgendjemanden und jene, die ihm/ihr nahe standen, eine Tragödie; eine Millionen Tote sind nicht bloss eine Statistik, sondern eine Millionen einzelne, persönliche Tragödien. Wie kann diese Tatsache mit so wenig Aufmerksamkeit an uns vorbeiziehen?
Wenn es sich um Syrien handelt, gibt es womöglich einige praktische Gründe. Ein Grund ist zweifelsohne, dass andauernde News-Ereignisse Menschen langweilen – auch Menschen aus den westlichen Ländern, die zu den wichtigsten Teilnehmern dieser Ereignisse gehören, wie beispielsweise in den Kriegen im Irak und Afghanistan. Nach einem anfänglichen Ausbruch der Faszination wanderte die Aufmerksamkeit der Leute anderswohin ab. Syrien zieht sich zu lange hin, als dass die Ereignisse dort die geringe Aufmerksamkeitsspanne der Menschen halten könnte.
Zudem ist es dem Umstand zuzuschreiben, dass in Syrien – so wie auch in aktuellen Kriegen in anderen Gebieten – Journalisten zur Zielscheibe werden; und wenn auch viele vielleicht bereit sind, dieses Risiko einzugehen, sind nur wenige bereit, in einer Situation zu verbleiben, in der sie möglicherweise Ziel einer Todesschwadron werden könnten. Viele Journalisten stellten fest, dass es schwierig ist, nach Syrien zu gelangen, oder waren – erst einmal vor Ort – nicht bereit, länger zu bleiben und somit ist die Menge an Bildmaterial begrenzt. Ohne reichlich Bildmaterial, wenn also die Geschichte nicht visualisiert werden kann, gibt es heute kaum noch eine Story. Ganz offensichtlich brauchen wir Bilder!
Doch oftmals sind es andere Gründe, aus denen einige Themen es nicht in die Nachrichten schaffen. In einigen Situationen hilft die Tragödie einer politischen Sache, in einer anderen verhindert sie sie. Für einige sind Opfer und Tote keine Tragödie und auch keine Statistik, sondern eine Quelle zum politischen Punktesammeln. Das ist am deutlichsten erkennbar, wenn man den Fall Israel und Syrien miteinander vergleicht.
Man betrachte beispielsweise die oberen Angaben aller Kriege, in die Israel im Laufe seiner Geschichte verwickelt war. Gemäss den obersten Schätzungen forderte der Unabhängigkeitskrieg 1948 – von allen beteiligten Seiten insgesamt – 20'000 Opfer. Die höchst geschätzte Zahl der Opfer der Kriege 1967 und 1973 sind ähnlich: weitere 20'000, respektive 15'000 Opfer. Die im Ausmass kleineren Kriege im Libanon und in Gaza in den nachfolgenden Jahren tragen einige Tausend weitere Opfer zu dieser schlimmen Gesamtzahl bei. Aber etwas fällt hier auf.
Alle Kriege zusammen, an denen Israel im Verlauf seiner Geschichte beteiligt war, haben mindestens 30'000 weniger Tote eingefordert als allein die letzten Jahre in Syrien. Angenommen, man würde alle Kriege, an denen Israel beteiligt war, zusammennehmen und sie wären entweder aufeinanderfolgend oder in einem Zug verlaufen, hätte es die gleiche Berichterstattung gegeben wie gegenwärtig zu Syrien? Wäre es zu mehr oder zu weniger Protesten weltweit gekommen, an denen Menschen unterschiedlicher Religion, Nationalität und Motivation teilgenommen hätten, als ausserhalb Syriens in den vergangenen Monaten? Wären die Staaten dieser Welt, die UN und der UN-Sicherheitsrat leiser oder lauter gewesen als sie es zu Israels Nachbarn Syrien in den letzten Monaten waren?
Die Antwort lässt sich in der globalen Reaktion auf den israelischen Luft- und Bodeneinsatz in Gaza 2008 und 2012 finden. Jedes Ereignis zählte Tote – so tragisch sie auch sind – die einen Bruchteil der Anzahl Toter des gegenwärtigen Aufstands in Syrien ausmachen. Doch die Welt – ihre Presse, Protestbewegungen, Regierungen und supra-nationale Organisationen – mobilisierten zu jeder Gelegenheit auf eine Weise, die eine Obsession zum Vorschein bringt, die bestenfalls ungesund, schlimmstenfalls aber Ausdruck einer deutlichen Bigotterie ist. Wo sind all die Menschen geblieben, die behaupten, dass der israelische Einfall in Gaza kein geringes Ausmass war, sondern sogar ein "Holocaust"? Wenn der Tod von Hunderten von Menschen ein "Holocaust" ist, was ist dann erst der Tod von 90'000 Menschen?
Wie ist es zu einer solch wüsten Differenz in den Reaktionen auf die tragischen Situationen in Syrien und Israel gekommen? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Erstens sind wir zum wiederholten Male zur Schlussfolgerung gezwungen, dass es keinen grossen Nachrichtenwert hat, wenn ein Araber einen anderen Araber tötet. Erst wenn ein Jude beteiligt ist, ist die Nachricht gut genug.
Zweitens gibt es einen strategischen Grund für das Schweigen zu Syrien im Gegensatz zum Meinungswirrwarr über Israel. Während die Todesrate in Syrien auf 100'000 ansteigt, ist es der Welt nicht möglich anders zu reagieren, weil sie etwa keine absolute Lösung dort sieht? Sie sieht einen Diktator, der sich im Krieg befindet gegen sein eigenes Volk, können aber keinen Weg entwerfen, um das Problem zu lösen. Sie sieht, dass hinter den Kulissen nur schlimmere Diktatoren, schlimmere Parteien, schlimmere Fraktionen und schlimmere religiöse Extremisten verbleiben.
Doch bei Israel glaubt die Welt, dass es eine Lösung gibt. Das Problem an sich, so glaubt sie, sei Israel, und eine Intervention erforderlich. Eine "Binsenweisheit" ist es mittlerweile, zu glauben, dass Presse, Politiker, internationale Organisationen und NGOs, nur fest genug darauf drängen müssen, um schliesslich diese Angelegenheit zu ihrem glücklichen, wahnhaften Ende zu bringen.
Wenn Menschen von einem "Holocaust" in Gaza sprechen, versuchen sie damit die Welt zum Eingreifen zu überzeugen (wenn sich dort ein "Holocaust" zuträgt, wie könnte man da nicht eingreifen? Man siehe nur Rwanda). Doch in Bezug auf Syrien scheint sich der Grossteil der Welt vollkommen einige, nur Zuschauer zu sein. In Sachen Israel wird jeder Tod untersucht, gegen jede Bewegung protestiert. Doch das Gemetzel in Syrien löst lediglich ein globales Schulterzucken aus.
Man wird sich nicht wundern brauchen, wenn sich einige von uns – nach diesen abweichendem Massanlegen – künftig dazu entscheiden, all jene, die voller Furor Israels Massnahmen kommentieren, als das zu benennen, was sie wirklich sind: weder Humanisten noch Journalisten, sondern schlicht und einfach anti-israelische Politaktivisten.