Der Abbau der Grenzen und die Reisefreiheit der Menschen waren zentrale Visionen des Projekts Europäische Union. Wenn man jedoch heute, egal wohin, auf den Kontinent blickt, dann wird diese Vision zu einem Albtraum. Die Flut an Flüchtlingen und Migranten über das Mittelmeer hat Auswirkungen auf jedes Land in Europa und schafft Besorgnis erregende neue Realitäten.
Entlang seiner Grenze zu Serbien hat die ungarische Regierung den Bau eines Zauns befohlen, um die Migrantenflut draußen zu halten. Ein vorläufiger Bau besteht aus riesigen Rollen Klingendraht. An der Grenze zwischen Italien und Österreich gibt es einen nie da gewesenen Rückstau an Menschen, da die österreichischen Behörden den Migranten die Einreise verweigern. In Calais gibt es einen Höllentanz, weil Migranten am französischen Hafen versuchen in den Kanaltunnel einzubrechen oder anders einen Weg zu finden, um nach Britannien zu kommen. Und in der ostdeutschen Stadt Heidenau hat es Krawallnächte gegeben, als Menschen aus dem Ort gegen das Flüchtlingsheim protestierten, eine Empfangshalle für Migranten niederbrannten und Kanzlerin Merkel ausbuhten, als sie dort ankam. Ihre Regierung hat gerade angekündigt, dass sie dieses Jahr die Einreise von 800.000 Migranten nach Deutschland erwartet.
Überall ändert sich das politische Klima. Schweden hat in den letzten Jahren mehr als seinen gerechten Anteil an Migranten nach Europa aufgenommen. Seine Regierung prahlt stolz mit dem guten Beispiel, dass es seiner Meinung nach setzt. Dass die jüngsten Meinungsumfragen zeigen, dass die Anti-Einwanderungs-Partei "Schweden-Demokraten" vor allen anderen Parteien liegt, ist nur eines der Ergebnisse. Bis vor kurzem bewegten sich die Schweden-Demokraten bei Umfragen im einstelligen Bereich.
Andernorts halten die Dinge, wenn sie noch nicht auseinanderfallen, dann gewiss nicht weiter zusammen. Polen, die tschechische Republik und die Slowakei haben in den letzten Tagen alle angekündigt, dass sie keine weiteren muslimischen Migranten aufnehmen werden. Das mag der Migrations- und Asylpolitik der EU widersprechen, aber alle drei Länder pochen darauf, dass sie von nun an nur christliche Flüchtlinge aus Syrien akzeptieren werden.
Und das sind, muss gesagt werden, die Länder, die am wenigsten unter dem Problem "leiden". Die Konditionen des Vertrags von Dublin bedeuten, dass Flüchtlinge ihren Asylantrag im ersten EU-Land stellen müssen, in dem sie ankommen, also sind es Italien und Griechenland, die jetzt die größte Verantwortung tragen. Das zeigt inzwischen Wirkung. Im März drohte der griechische Verteidigungsminister anderen EU-Mitgliedsstaaten, er werde den Rest Europas mit Migranten überfluten, einschließlich ISIS-Kämpfern, wenn sie nicht mehr dafür tun würden den Griechen finanziell unter die Arme zu greifen. Im Juni drohte die italienische Regierung damit, Migranten Visa zu erteilen, die es ihnen erlauben legal in der EU überall hinzureisen. Diese Drohungen passt das kaum in die erklärte Ambition der EU zur "immer engeren Union" zwischen Mitgliedstaaten. Sie sind eine Waffe am Kopf des Zusammenwachsens der EU.
Natürlich ist die Migration durch die weiche Unterseite Europas nichts Neues. Neu sind aber das Ausmaß der Bewegung und die unzureichende Reaktion. Dieses Jahr hat bereits den bis heute größten Zustrom an Migranten erlebt, ohne dass ein Ende absehbar ist.
Es ist nicht nur die furchtbare humanitäres Lage in Syrien und Eritrea, die die Krise verursacht, sondern auch Menschen aus Subsahara-Afrika und anderswo, die ein besseres Leben suchen, um ihre Familien zu unterstützen. Das Chaos in Libyen macht offensichtlich das Problem der ausgewählten Ausreisepunkte kaum angehbar. Aber es besteht wenig Wahrscheinlichkeit, dass die Situation in den Heimatländern sich bald ändern wird.
Es steht kaum in Europas Macht die Lage in Syrien und Eritrea (um nur zwei zu nennen) zu stabilisieren und den Lebensstandard im Afrika südlich der Sahara und dem Rest der Region zu heben. Jeder, der glaubt, Europa könne neben den eigenen die Probleme in diesen Ländern aus der Welt schaffen, ist so naiv wie diejenigen, die glauben, das Problem beginne in Calais. Die Herausforderung erfordert jedoch die Art Reaktion im gesamten Spektrum, die weit davon entfernt ist berücksichtigt zu werden.
Es gibt Gründe für diese Lähmung. Aktuell bleibt die Frage "Was ist zu tun?" für alle westeuropäischen Mainstream-Politiker toxisch. Während des Sommers sprach der britische Premierminister David Cameron nebenbei von dem "Schwarm" an Migranten in Calais. Seine politischen Gegner griffen das begierig auf und verurteilten es als "beleidigende" Sprache. Welche Möglichkeit gibt es hier aber, die Art mutigen Denkens zu empfehlen, das wir in Europa prüfen müssen, wenn wir unsere Reaktion auf diese Krise weiter auf ein Sprachspiel reduzieren?
Die erste Herausforderung könnte darin bestehen den Versuch zu unternehmen die Migranten dazu zu ermutigen näher an den Ländern zu bleiben, aus denen sie fliehen. Professor Paul Collier schlug vor kurzem vor, von der EU gesponserte sichere Arbeits-Zufluchtsorte in Jordanien aufzubauen, um sicherzustellen, dass syrischen Flüchtlinge (die 40% der jüngsten EU-Ankömmlinge ausmachen) einen Anreiz haben in der Region zu bleiben. Das erlaubt ihnen nicht nur eine bessere Integrationschance, sondern macht es auch leichter nach Hause zurückzukehren, falls und sobald sich die Lage verbessert. Ähnliche Projekte könnten für andere Gebieten überlegt werden.
Es gibt zudem eine dringende Notwendigkeit den Prozess des Aussortierens echter Flüchtlinge von Wirtschaftsmigranten zu verbessern. Der aktuelle Prozess passt nicht zum Zweck - etwas, das durch die Tatsache verschlimmert wird, dass es, befinden sie sich die Menschen erst einmal innerhalb Europas, zunehmend schwierig wird sie wegzuschicken, wer immer sie auch sind. Es würde für die EU-Länder weit mehr Sinn machen, Migranten aus Europa herauszuhalten, während man herausfindet, wer sie sind (die meisten Ankömmlinge kommen ohne Papiere) und dann die Legitimität ihres Antrags zu bewerten. Die EU könnte überlegen nordafrikanische Ländern zu bezahlen, die solche Entscheidungszentren bieten. Tunesien ist eine offensichtliche Möglichkeit, ebenso Marokko. Vielleicht könnte die französische Regierung mit den Algeriern verhandeln. Außer jemand hat den Wunsch nach Libyen zurückzukehren, sind das die Partner, mit denen wir arbeiten könnten.
Sind legitime Flüchtlinge einmal in Europa, wird es ebenfalls entscheiden sein ein differenzierteres Abstufungssystem für Aufenthalte zu schaffen, statt eines einstufigen, das für alle Systeme gilt. Abgesehen vom Daueraufenthaltsrecht sollte es befristete Visa geben, die strikt festhalten, für wo sie ausgegeben sind und die dein Verfallsdatum beinhalten.
Diese wenigen Vorschläge müssen vielleicht irgendwann übernommen werden. Privat erkennen viele Abgeordnete dies. Aber während Europas Führungspolitiker weiter darauf warten, dass solche Ideen politisch akzeptabel werden, schieben sie das Problem weiter über den Kontinent herum. Es ist an der Zeit, dass sie stattdessen anfangen zu führen. Wenn sie versagen, dann werden überall in Europa die Zäune hochgehen und mindestens ein Teil des europäischen Traums, wenn nicht mehr, könnte damit sterben.