Zweifellos hatte Patrick Kanner, Frankreichs Minister für Städtebau, am 27. März nicht vor, die Wahrheit zu sagen.
Er war im Studio des Fernsehsenders Europe 1 und wiederholte das Credo der Linken: Islamistischer Terrorismus habe seine Wurzeln in Armut und Arbeitslosigkeit. Doch immer wieder wurde ihm eine Frage gestellt: "Wie viele Molenbeeks gibt es in Frankreich?" Schließlich sagte er: "Wir wissen derzeit von hundert Stadtteilen in Frankreich, die möglicherweise Ähnlichkeiten mit dem aufweisen, was in Molenbeek passiert ist."
Molenbeek, das weiß inzwischen die ganze Welt, ist jenes Brüsseler Viertel, das zum Epizentrum des Dschihad in Europa geworden ist. Es ist ein Stadtteil unter salafistischer Kontrolle, der drei seiner Einwohner schickte, um am 13. November Hunderte von Menschen in Paris zu ermorden. Bewohner desselben Stadtteils verübten die Bombenanschläge auf den Brüsseler Flughafen und die U-Bahn-Station Maalbeek.
Die Reaktionen auf Kanners Äußerung ließen nicht lange auf sich warten. Jean-Christophe Cambadélis, der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, bezichtigte Kanner, die "nationale Harmonie" zu "zersetzen". Julien Dray, eine andere führende Persönlichkeit der Sozialisten, kritisierte Kanner mit den Worten: "Ich mag es nicht, wenn wir [Leute] stigmatisieren."
Trotzdem lässt sich Kanner nicht einschüchtern. In einem Interview, das er am 28. März der Zeitung Le Parisien gab, rief er ein paar Fakten in Erinnerung:
"Amedy Coulibaly [der Mörder im Hyper-Cacher-Supermarkt], der aus [dem Pariser Vorort] Grande-Borne à Grigny kam, Mehdi Nemmouche [der den Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel verübte], der zeitweilig im Bourgogne-Viertel von Tourcoing [Stadt an der französisch-belgischen Grenze] gelebt hat, dazu Mohamed Merah, der aus dem Toulouser Viertel Mirail stammte."
Unterstützung erhält Kanner von dem sozialistischen Abgeordneten Malek Boutih. Er sagt:
"Zum ersten Mal sagt ein Minister zumindest ein bisschen von der Wahrheit über die Vorstädte, nämlich dass sich die Ghettos Stück für Stück in Zonen verwandelt haben, die wir kaum noch kontrollieren können. ... Diese Viertel sind Brutstätten des Terrorismus."
Auch Samia Ghali, eine sozialistische Senatorin aus dem Département Bouches-du-Rhône, bekräftigte die Äußerungen des Ministers: "In einigen Vierteln von Marseille gibt es Trainingslager, wo den Leuten das Schießen beigebracht wird." Sie fügte hinzu: "Ich bin inzwischen an dem Punkt angelangt, wo ich mich frage, ob wir um Schulhöfe Mauern bauen sollten, um sie vor Kalaschnikow-Kugeln zu schützen und zu verhindern, dass Gewehre auf den Schulhof gelangen."
Gilles Kepel, Professor am Pariser Institut für politische Studien und einer der besten Kenner des Islamismus in Frankreich, erklärte Anfang April, dass drei Zutaten nötig seien, um ein Molenbeek zu erschaffen:
"1) Ein starkes organisiertes Verbrechen, das sich um den Handel mit Cannabis gruppiert (das aus dem marokkanischen Rifgebirge kommt). 2) Unterschlüpfe für Terroristen und Plätze, wo sie Waffen lagern können. 3) Kommunalpolitiker, die hinnehmen, dass die Salafisten zahllose unkontrollierbare Moscheen eröffnen."
Diese drei Zutaten seien nicht durchgängig in allen hundert französischen Molenbeeks vorhanden, gab Kepel zu. Doch das Ziel der Terroristen sei es, Stadtteile zu erobern, um einen "Enklavenkrieg" führen zu können.
Patrick Kanner, der Minister für Städtebau, bestätigt diese These: "Die Salafisten wollen in diesen Vierteln die Macht ergreifen." Ministerpräsident Manuel Valls betonte kürzlich den Ernst der Lage, als er sagte, eine fundamentalistische "Minderheit" sei drauf und dran, "die ideologische und kulturelle Schlacht" um den Islam zu gewinnen.
Eigentlich kann man kaum sagen, dass die Salafisten "in diesen Vierteln die Macht ergreifen wollen" – denn in vielen haben sie das bereits getan.
Am 27. Januar brachte die Zeitschrift Paris-Match eine etliche Seiten lange Reportage über das Viertel Reine-Jeanne in Avignon, wo Salafisten systematisch die Kontrolle über mehrere Tausend Muslime errichtet haben:
"Je länger ich zwischen den Gebäuden wandelte, desto verblüffter wurde ich. Ein Hof voller islamistischer Wunder, eine salafistische Nische, eine Enklave, die so leben will wie zu Zeiten Mohammeds. Bäcker, Friseure, Hausmeister, Jugendliche – alle (oder fast alle) besessen vom Koran. Oder sagen wir: ihrer Art des Koran. Eine islamische Republik im Miniformat."
"In den Predigten prangern sie an, kriminalisieren. Eine Frau, die raucht? Eine Verdorbene. Eine Frau, die sich nicht verschleiert? Eine Verführerin. Ein Mann, der nicht halal speist? Er hat einen Expressfahrschein zur Hölle. Die alleinerziehende Nachbarin mit drei Kindern, die zusammen mit Männern arbeitet? Sie wird ihre Tugend verlieren. Stattdessen sollte sie ihren Job lieber kündigen. Um nicht als 'Flittchen' zu gelten, sollte die Unglückliche den harten Weg gehen und von der Sozialhilfe leben!"
In Sevran, einem Pariser Vorort, wurde vor einigen Wochen eine salafistische Moschee geschlossen, weil dort Dutzende von jungen Muslimen für den Islamischen Staat rekrutiert worden waren. Sechs von ihnen sollen bereits in Syrien getötet worden sein.
Nadia Remadna, eine muslimische Sozialarbeiterin, lebt in Sevran. Sie hat die örtliche "Mütterbrigade" gegründet, die Frauen helfen soll, ihre Kinder vor den Islamisten zu schützen. 2014 schrieb sie das schockierende Buch Wie ich meine Kinder rettete. Der Untertitel lautet: "Früher fürchteten wir, unsere Kinder würden kriminell werden. Heute haben wir Angst, dass sie Terroristen werden."
Am 14. März erhielt Remadna einen Drohanruf: "Wir wissen, wo deine Kinder zur Schule gehen", sagte der Anrufer, außerdem: "Deine Tochter ist sehr hübsch."
Am nächsten Tag erschien bei ihr eine Delegation vollständig verschleierter, salafistischer "wahrhaft muslimischer Mütter" und sagte ihr: "Wir wollen Moscheen, keine Schulen."
In einem Interview, das der Philosoph Yves Michaud am 29. März der Zeitschrift Paris Match gab, sagte er über seine Studenten:
"Meine ehemaligen Studenten, die jetzt in den Vorstädten unterrichten, sagen mir, dass unter ihren Schülern welche sind, die über Nacht zu Terroristen werden könnten. Auf ihnen lasten der Islam, das Heranwachsen, die Ghettoisierung, die sie Fragen nach ihrer Identität stellen lässt, die kulturelle Orientierungslosigkeit. Das ist ein idealer Nährboden für die dschihadistische Missionierung."
Wie viele Salafisten gibt es in Frankreich? 15 bis 20.000, sagt Bernard Godard, der ehemalige Staatssekretär für Religion im Innenministerium. Auf 20 bis 30.000 schätzt der Politologe Antoine Sfeir ihre Zahl.
Nach Angaben der Polizei sind von den 2.500 registrierten islamischen Glaubensstätten in Frankreich mindestens 90 den Salafisten zuzurechnen. Die Zahl verdoppelt sich alle drei Jahre. Sie befinden sich in den Vororten von Paris, im Großraum Lyon und in Marseille.
Laut dem Innenministerium waren 41 islamische Einrichtungen Ziele der "Infiltration", was bedeutet, dass "traditionelle" Imame gewaltsam beseitigt und durch salafistische Imame ersetzt wurden.
Die wirkliche Frage lautet: Wenn der Staat von dieser Situation weiß – und das tut er –, warum hat er nicht den Salafismus längst verboten, warum verbannt er nicht die salafistischen Imame, die ihr Unwesen nicht nur in jenen Vierteln treiben, sondern auch auf YouTube, Facebook und Twitter?
Yves Mamou lebt in Frankreich und arbeitete zwei Jahrzehnte lang als Journalist für Le Monde.