Sex ist in der konservativen palästinensischen Gesellschaft ein Tabuthema. Für viele war es daher eine böse Überraschung, als kürzlich an die Öffentlichkeit gelangte, dass die sexuelle Belästigung in dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen um sich greift.
Die in Beirut ansässige, der Hisbollah nahestehende Zeitung Al-Akhbar hat darüber einen in starke Worte gefassten Bericht veröffentlicht. Er trägt den Titel: "Gaza: Jobsuchende müssen auf sexuelle Belästigung und Korruption gefasst sein". Amjad Yaghi, der junge palästinensische Journalist, der die Reportage verfasst hat, hat damit außerordentlichen Mut bewiesen.
Denn die Hamas ist, wie sich denken lässt, davon nicht begeistert.
Yaghi schreibt:
"Im Konflikt zwischen ihren beruflichen Pflichten und ihren sexuellen Instinkten halten sich [einige] Mitarbeiter der öffentlichen Dienste im Gazastreifen nicht mehr an die moralischen Regeln. Angesichts kaum vorhandener Arbeitsmöglichkeiten für Frauen nutzen sie ihren Status aus, vor allem die Entscheidungsgewalt über Einstellungen, Stellenvergaben, Dienstleistungen und die Mittelvergabe für Projekte."
Yaghi zufolge sei die Reportage in einer libanesischen Zeitung erschienen, weil in den palästinensischen Medien Artikel verboten seien, die die Bevölkerung erzürnen und palästinensische Traditionen und die Moral "schädigen" könnten.
Yaghi benennt die bizarre Zwickmühle, in der sich die Opfer befinden:
"Sie können nicht frei über das reden, was sie erlitten haben. Darum schweigen die meisten Frauen, die sexuell belästigt wurden. ... Sie fürchten, dass sie dann keine Jobs mehr bekommen und ihr Ruf beschädigt werden könnte."
Der Bericht deckt die Fälle von mindestens 36 Palästinenserinnen auf, die bei ganz verschiedenen Arbeiten Opfer sexueller Belästigung und Ausbeutung wurden. Wie zutreffend Yaghis Beschreibung ihres Dilemmas ist, zeigt die Tatsache, dass 25 von ihnen keine Einzelheiten nennen wollten, die anderen elf sprachen offen, aber nur unter der Bedingung, dass ihre Fälle anonym bleiben.
Die geschilderten Sexualstraftaten waren verschiedenster Natur. Zwanzig der Frauen sagten, sie hätten sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt, zehn gaben an, dass sie zu "sexueller Bestechung" aufgefordert worden seien. Sechs Frauen sagten Yaghi, dass sie am Arbeitsplatz Opfer sexueller Gewalt geworden seien.
Eine 27-jährige Journalistin berichtete ihm, dass ein Funktionär, der für das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) arbeite, sie zu einem Vorstellungsgespräch in sein Büro eingeladen habe:
"Als sie sein Büro betrat, versuchte der Funktionär, sich ihr zu nähern und sie zu berühren, doch sie trat zurück und verließ den Raum. ... Am folgenden Tag war der Funktionär offen zu ihr: Er bot ihr einen Job an, wenn sie im Gegenzug Geschlechtsverkehr mit ihm hätte. Sie war schockiert und redete nicht mehr mit ihm."
Die Frau glaubt, dass der hohe Status des Funktionärs, der sie sexuell belästigt hat, ihn davor schütze, für sein Verhalten zur Verantwortung gezogen zu werden. Zugleich spielt sie auf eines der größeren und tieferen Probleme der arabischen und islamischen Welt an: "Wenn eine Frau über Ehre spricht, zieht unsere Gesellschaft ihren Anstand in Zweifel." Eine dritte Hürde, auf die sie hinweist, ist die, dass UNRWA-Funktionäre nach palästinensischem Recht Immunität vor Strafverfolgung genießen.
Das sollte allerdings nicht für die höchsten Etagen von Organisationen gelten, die auf Spenden aus dem Ausland basieren, etwa für den Direktor einer internationalen Hilfsorganisation, der Berichten zufolge einer 28-Jährigen einen hochdotierten Job anbot – als Gegenleistung für Sex.
Juristen im Gazastreifen dürften eigentlich genug zu tun haben, auch ohne ihre Angestellten sexuell zu belästigen. Doch eine 23-jährige Rechtsreferendarin sagte dem investigativen Journalisten, ihr Chef, ein 45 Jahre alter Rechtsanwalt, habe ihr und drei ihrer Kolleginnen sexuelle Avancen gemacht habe. Ein anderer Anwalt bot einer Kollegin 50 Schekel (10 Euro) an, wenn sie ihn dafür ihren Körper berühren ließe.
Wie es in dem Bericht weiter heißt, hätten auch 13 Journalistinnen angegeben, in den letzten Jahren Opfer sexueller Belästigung und Nötigung geworden zu sein.
Yaghi hat erkannt, dass die palästinensischen Gesetze keine Mittel gegen sexuelle Belästigung in der palästinensischen Gesellschaft bieten. Zwar gibt es den Tatbestand der Bestechlichkeit am Arbeitsplatz, doch sexuelle Belästigung fällt nicht darunter.
Viel ist in der letzten Zeit über den auf breiter Front wachsenden Kindesmissbrauch im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen geschrieben worden, wo Kinder der ständigen Gehirnwäsche bewaffneter Gruppen unterworfen sind. Letzte Woche kam ein neues Video an die Öffentlichkeit, das zeigt, wie radikale islamistische Gruppen im Gazastreifen die palästinensischen Kinder aufhetzen. In dem Video sind Kinder zu sehen, die wie dschihadistische Milizionäre gekleidet sind und die Detonation von Bomben in der Nähe eines israelischen Panzers nachspielen. Es ist zu hören, wie das Publikum – die Eltern dieser Kinder – in Jubel und Applaus ausbricht.
In einer Gesellschaft, in der Kinder dazu indoktriniert werden, Juden zu ermorden, ist es keine Überraschung, dass Frauen ebenfalls zu Opfern verschiedener Arten von Ausbeutung werden.
Yaghi hält die Identitäten der männlichen Delinquenten zurück. Doch es ist klar, dass es sich um hochrangige Entscheidungsträger des öffentlichen und des privaten Sektors handelt. Ebenso klar ist, dass die Frau, die von dem UNRWA-Funktionär sexuell belästigt wurde, Recht hat: aufgrund ihrer Verbindungen zur Hamas werden diese Kriminellen zweifellos nicht ins Gefängnis wandern, sondern auf ihren Machtpositionen bleiben.
Wo sind die Frauenrechtsorganisationen jetzt? Und wo die Europäer und Amerikaner, die die internationalen Menschenrechtsorganisationen im Gazastreifen beaufsichtigen? Könnte es sein, dass diese ehrwürdigen Wachhunde immer nur dann aus ihrem Schlummer erwachen, wenn sie frisches israelisches Fleisch riechen? Wie viele Frauen werden in der Zwischenzeit sexuell belästigt und vergewaltigt, während diese Wachhunde schlafen?
Khaled Abu Toameh ist ein preisgekrönter Journalist mit Sitz in Jerusalem.