Die Türkei hat erneut damit gedroht, ein umstrittenes Migrantenabkommen auszusetzen und Hunderttausende von Asylsuchenden nach Europa zu schicken, sollte türkischen Bürgern nicht innerhalb der nächsten Monate das visafreie Reisen in die Europäische Union erlaubt werden.
Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu fordert die EU dazu auf, bis Oktober die Visabestimmungen für türkische Bürger abzuschaffen. Unterdessen werden syrische Kinder in türkischen Flüchtlingslagern und in deren Umgebung vergewaltigt und misshandelt.
9 Monate altes syrisches Baby vergewaltigt; Gericht verhängt Nachrichtensperre
Im Distrik Islahiye in Gaziantep wurde am 19. August ein neun Monate altes syrisches Baby vergewaltigt. Das Baby ist das Kind einer syrischen Familie, die vor dem Krieg in Syrien geflohen ist, berichtet die Zeitung Birgun. Die Familie, deren Mitglieder sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft von Gaziantep verdingen, hatte auf dem Feld, auf dem sie arbeitet, ein Zelt aufgebaut.
Am Tag der Vergewaltigung hatten die Eltern ihr Baby mit einem 18-jährigen Mann allein gelassen, bevor sie zur Arbeit auf das 100 Meter entfernte Feld gingen.
Als sie zurückkamen, sahen sie den jungen Mann, einen Türken, der als Hirte arbeitet, sich vom Zelt entfernen. Die Mutter bemerkte, dass ihre Babytochter vergewaltigt worden war und brachte sie zum Krankenhaus, wo die Tat bestätigt wurde.
Das Büro des Gouverneurs von Antep hat mitgeteilt, der junge Mann sei verhaftet worden und werde vor Gericht gestellt.
Huseyin Simsek, der Journalist, der für die Zeitung Birgun über den Vorfall berichtet hat, sagt, er und seine Zeitung hätten in den sozialen Medien deshalb unzählige Morddrohungen erhalten.
Simsek schreibt auf Twitter:
"Heute wurde in Antep ein 9 Monate altes Baby vergewaltigt. Es gibt einen medizinischen Bericht. Ich werde beschimpft, denunziert und mit dem Tod bedroht."
"Der Vorfall ist echt. Die Ärzte sagen, das Baby sei 7 oder 9 Monate alt. Wir werden weiter darüber schreiben."
Einige Twitter-Nutzer nennen den Reporter u.a. einen "PKK-Terroristen", einen "FETO [Gülen]-Terroristen", einen "Verräter" und "Hurensohn". Für andere ist Birgun "Klopapier", sie fordern die Zerstörung des Redaktionsgebäudes.
Als Samil Tayyar, ein AKP-Abgeordneter aus Gaziantep, die Vergewaltigung über seinen Twitter-Account bestätigte, antwortete ein anderer Twitter-Nutzer:
"Lieber Abgeordneter, solche Nachrichten sollten nicht benutzt werden. Wir schießen uns selbst in den Fuß. Wir liefern dem Feind Munition. Seien sie bitte verantwortungsbewusst."
Offensichtlich bezog er sich auf die jüngste Kritik der schwedischen Regierung daran, dass Ankara den Sex mit Kindern legalisieren will.
Das türkische Verfassungsgericht hat im Juli einen Paragrafen außer Kraft gesetzt, der alle sexuellen Handlungen mit Kindern unter 15 als "sexuellen Missbrauch" einstuft, und dem Parlament eine sechsmonatige Frist gegeben, das Gesetz zu reformieren.
Die schwedische Außenministerin Margot Wallström twitterte daraufhin über ihren offiziellen Account: "Die türkische Entscheidung, Sex mit Kindern unter 15 zu erlauben, muss zurückgenommen werden. Kinder brauchen mehr, nicht weniger Schutz vor Gewalt und sexuellem Missbrauch."
Der stellvertretende türkische Ministerpräsident Mehmet Simsek twitterte zurück: "Sie sind ganz klar falsch informiert. So etwas Dummes gibt es in der Türkei nicht. Bitte informieren Sie sich richtig."
Die Türkei bestellte den schwedischen Botschafter ein und zeigte am Istanbuler Flughafen eine Leuchtschrift, mit der Reisende davor gewarnt wurden, nach Schweden zu reisen.
"Reisewarnung!", heißt es auf einem großen Reklamedisplay in der Abfertigungshalle des internationalen Terminals am Flughafen Atatürk. "Wissen Sie, dass Schweden die weltweit höchste Vergewaltigungsrate hat?"
Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu sagte zudem, Wallström habe "nicht verantwortlich" gehandelt.
Die Tatsachen vor Ort deuten allerdings darauf hin, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern in der Türkei extrem weit verbreitet ist und dass es die türkischen Behörden sind, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
Das Strafgericht Islahiye in Gaziantep hat inzwischen eine Nachrichtensperre über die Vergewaltigung des syrischen Babys verhängt.
"Bis die Untersuchung abgeschlossen ist, sind alle Nachrichten, Interviews, Kommentare und ähnliche Veröffentlichungen über die Ermittlungsakte verboten, ob in den geschriebenen, visuellen oder sozialen Medien oder im Internet", heißt es in dem Urteil.
30 syrische Jungen im Lager Nizip vergewaltigt
Die Tageszeitung Birgun berichtet auch darüber, dass im Mai in einem Flüchtlingslager im Distrikt Nizip in Gaziantep 30 syrische Jungen im Alter zwischen 8 und 12 vergewaltigt worden seien.
Die Überfälle ereigneten sich in einem Zeitraum von drei Monaten, in den Toiletten des Lagers, das von der Katastrophen- und Notfallmanagementbehörde (AFAD) des Ministerpräsidenten geführt wird.
Am 23. April hatten die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der damalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, zahlreiche türkische Minister und der Bürgermeister der Stadt das Lager aus Anlass des türkischen nationalen "Kindertages" besucht und fanden lauter Worte des Lobes für das Lager, in dem 14.000 Syrer untergebracht sind.
Eine in dem Lager beschäftigte Reinigungskraft zahlte den Kindern offenbar ein paar türkische Lira, um sie sexuell zu misshandeln. Der Mann hat die Verbrechen gestanden und behauptet, "es seien die Kinder gewesen, die ihn zu dem Missbrauch verleitet hätten".
Acht Familien von missbrauchten Kindern haben Anzeige erstattet. Erk Acarer schreibt in Birgun:
"Es wird davon ausgegangen, dass einige Familien aus Angst keine Anzeige gegen E.E. erstattet haben, der die Kinder sexuell missbraucht hat, da sie Asylbewerber in der Türkei sind. Darum wollen sie eine solche Situation vermeiden."
AFAD, die Staatsinstitution, die das Lager leitet, bestätigt die Vergewaltigungen:
"AFAD hat Vorkehrungen getroffen, um eine Wiederholung des Vorfalls zu vermeiden. Die Betroffenen haben von Anfang an psychologische Betreuung erhalten."
Sexueller Missbrauch syrischer Flüchtlinge im Lager Islahiye
Kurz nach dem Skandal im Lager Nizip wurde berichtet, dass fünf syrische Kinder, die im Flüchtlingslager Islahiye untergebracht sind, das ebenfalls vom AFAD geführt wird, von einem 87 Jahre alten Syrer namens Ahmed H. mehrfach vergewaltigt worden sind. Auch in diesem Fall waren die Lagerbehörden nicht "in der Lage", die Kinder – im Alter zwischen vier und acht – zu schützen.
Zwei der missbrauchten Kinder waren die eigenen Enkel des Täters, eines seine Nichte, eines ein Neffe. Ahmed H. ließ die Kinder sich auf seinen Schoß setzen, bevor er sie sexuell missbrauchte – offenbar vor aller Augen.
Die Verbrechen wurden am 20. November 2015 bekannt, als jemand die örtliche Polizei benachrichtigte, dass ein "älterer Mann, ein zwei oder drei Jahre altes Mädchen sexuell missbraucht, während es vor dem Lager auf seinem Stuhl sitzt."
Die Kinder sagten dann gegenüber den Behörden über den an ihnen verübten Missbrauch aus. Dieser wurde auch auf Überwachungskameras festgehalten.
Am 3. Mai wurde Ahmed H. vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs an seinen Enkeln freigesprochen; die Beweise seien für eine Verurteilung "nicht überzeugend genug".
Was den Missbrauch an anderen Opfern betrifft, so sah es das Gericht als "strafmildernd" an, dass er vor Gericht "während des Prozesses ein positives Benehmen an den Tag gelegt" habe.
"Die Syrer außerhalb des Lagers sind ... ungeschützt."
"Die Asylbewerber in den Flüchtlingslagern machen 10 Prozent aller Asylbewerber aus", sagt Mahmut Togrul, ein Abgeordneter der Demokratischen Partei des Volkes (HDP) in der Stadt Gaziantep.
"Die Syrer außerhalb der Lager machen ein echtes Drama durch. Die Leute, die auf der Straße verbleiben, sind ungeschützt. Wir haben versucht, die Behörden darauf aufmerksam zu machen, doch leider kommt in der Türkei niemand seiner Pflicht nach, sie kümmern sich nicht um fundamentale Probleme."
"Da die AKP vorwiegend mit ihren eigenen Problemen beschäftigt ist, sind die Syrer sich selbst überlassen. ... Wir haben es mit einer abscheulichen Situation zu tun. Sie haben zugegeben, dass ihre Syrien-Politik falsch war. Hätten sie diese falsche Politik nicht gemacht, wären jetzt nicht so viele Menschen am Ende. Es reicht nicht zu sagen: 'Wir haben Fehler gemacht". Sie müssen die Probleme lösen, die von ihrer falschen Politik verursacht worden sind. Die AKP hat die Leute sich selbst überlassen und muss jetzt die Verantwortung für sie übernehmen."
"Wo sind die drei Milliarden Euro?"
Unterdessen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im Nationalen Kongress- und Kulturzentrum von Bestepe am 24. August eine Rede gehalten. Darin sagte er:
"Was haben sie [die Europäer] gesagt? 'Wir werden den Flüchtlingen, die zu diesen Lagern kommen, drei Milliarden Euro Hilfsgelder geben.' Wo sind sie? Das Jahr ist fast vorbei. Wo sind sie? Nicht hier."
Reporter und Augenzeugen haben unterdessen aufgedeckt, dass die Türkei Dschihadisten die Ein- und Ausreise erlaubt und extremistische Gruppen wie den Islamischen Staat und die Al-Nusra-Front sogar mit Geld, Logistik und Waffen versorgt.
Die türkische Regierung hat – zusammen mit anderen in der Region – Syrien in einen wahren Alptraum verwandelt, offenbar, um den sunnitisch-türkischen Einfluss auf Syrien und andere Länder auszuweiten und die Kurden daran zu hindern, im Norden Syriens eine freie Heimstatt zu errichten.
Seit Ausbruch des Krieges im Jahr 2011 haben dschihadistische Terrorgruppen Millionen von Menschen terrorisiert, vor allem Alawiten, Christen und Kurden. Millionen mussten aus ihrem Land fliehen. Verzweifelt kamen viele Syrer in der Türkei an und leben immer noch unter dem "vorübergehenden Schutz" der türkischen Regierung.
Hätte die türkische Regierung nicht zum Aufstieg des dschihadistischen Terrorismus in der Region beigetragen, wäre vieles von alldem nie passiert.
Die Türkei lässt nun nicht nur syrische Asylbewerber unversorgt und ungeschützt, sondern erpresst gleichzeitig die EU mit den Syrern, für deren Schmerz und Not die türkischen Behörden zum großen Teil verantwortlich sind.
Angesichts des immer gewaltsameren Vorgehens gegen türkische Medien und des Drucks auf die Redefreiheit im Land ist es sehr wahrscheinlich, dass die aus Gaziantep gemeldeten Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern nur die Spitze des Eisbergs sind.
Wenn syrische Babys und andere Kinder, dazu Frauen, in der Türkei vergewaltigt und auf grausame Weise behandelt werden und ihre Peiniger unbehelligt bleiben; wenn Journalisten, die über diese Fälle berichten, bedroht werden; wenn über die an Syrern verübten Verbrechen Nachrichtensperren verhängt werden, und wenn Kriminellen von Gerichten Strafnachlass wegen "guten Benehmens" gegeben wird, dann ist die Türkei doch wohl eines der letzten Länder der Welt, die das moralische Recht haben, von Europa oder irgendjemand sonst visafreies Reisen zu fordern.
Robert Jones, ein Türkeiexperte, lebt derzeit in Großbritannien.