Es scheint so, als habe die internationale Gemeinschaft vergessen, dass es auch weit jenseits des Westjordanlands und des Gazastreifens noch Palästinenser gibt. Diese "anderen" Palästinenser leben in arabischen Ländern wie Syrien, Jordanien und dem Libanon, und ihre vielen, schwerwiegenden Probleme interessieren die internationale Gemeinschaft offensichtlich nicht im Geringsten. Lediglich die im Westjordanland oder dem Gazastreifen lebenden Palästinenser ziehen die internationale Aufmerksamkeit auf sich. Warum ist das so? Weil es genau diese Personen sind, die von der internationalen Gemeinschaft als Waffe gegen Israel benutzt werden.
Nahezu 3'500 Palästinenser wurden seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 in Syrien getötet. Da es jedoch Araber waren und nicht Israelis, die diese Palästinenser getötet haben, taucht diese Tatsache in den Nachrichten der Mainstream-Medien nicht auf. Diese Zahl wurde vergangene Woche von der in London basierten Action Group For Palestinians of Syria (AGPS), veröffentlicht. Die Aktionsgruppe wurde 2012 mit dem Ziel gegründet, das Leiden der Palästinenser in Syrien zu dokumentieren und Listen über Opfer, Inhaftierte und Vermisste anzulegen, um diese dann an die Datenbanken der Menschenrechtsforen weiterzuleiten.
Diese "Menschenrechts"-Foren schenken solchen Angaben allerdings nur wenig Aufmerksamkeit. In der Tat sind sie einfach zu sehr beschäftigt um sie zu beachten, sind sie doch ganz und gar mit Israel befasst.
Indem sie ihre gesamte Aufmerksamkeit ausschliesslich auf die Palästinenser im Westjordanland und dem Gazastreifen konzentrieren, versuchen diese "Menschenrechts"‑Foren permanent, Wege zu finden, um Israel für vermeintliches Fehlverhalten verantwortlich zu machen, während sie gleichzeitig die Verbrechen der Araber an deren palästinensischen Brüdern einfach ignorieren. Ihre krankhafte Fixierung auf Israel, die mitunter geradezu lächerliche Ausmasse annimmt, erweist den palästinensischen Opfern arabischer Verbrechen einen denkbar schlechten Dienst.
Wirft man einen Blick auf die Zahlen, dann wurden 2011 laut der AGPS im ersten Bürgerkriegsjahr in Syrien 85 Palästinenser getötet. Im darauffolgenden Jahr, stieg diese Zahl bereits auf 776. Und im Jahr 2013 wurde die Höchstzahl palästinensischer Opfer erreicht: 1'015. 2014 belief sich die Zahl der in Syrien getöteten Palästinenser auf 724. Im folgenden Jahr wurden 502 Palästinenser getötet. Und seit Beginn dieses Jahres wurden (bis Juli) etwa 200 Palästinenser in Syrien getötet.
Wie wurden diese Palästinenser getötet? Nach Auskunft der Aktionsgruppe kamen sie bei direktem Beschuss, bewaffneten Auseinandersetzungen, Gefängnis-Folter, Bombardements sowie bei der Belagerung ihrer Flüchtlingscamps in Syrien ums Leben.
Und dennoch scheint die Not ihres Volks in Syrien nicht an oberster Stelle der Prioritätenliste der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah zu stehen. Den Ehrenplatz auf dieser Liste bekleiden die Schuldzuweisungen an Israel für all das, was die PA selbst verursacht hat. Für PA-Präsident Mahmoud Abbas und seine hochrangigen Vertreter im Westjordanland zählen die Palästinenser in Syrien schlicht und einfach nicht. Tatsächlich versucht die Führung der PA derzeit in einem Schritt, der jedes Vorstellungsvermögen überschreitet, seine Beziehungen zum Assad-Regime in Syrien zu verbessern – zu eben jenem Regime, das Tag für Tag unzählige Palästinenser tötet, inhaftiert und foltert.
In einem Schritt, der viele Palästinenser in Syrien zutiefst erzürnte, feierte die Palästinensische Autonomiebehörde vor Kurzem die Eröffnung einer neuen palästinensischen Botschaft in Damaskus. "Sie [die Führung der PA] haben die in Syrien lebenden Palästinenser verkauft und sich mit dem syrischen Regime ausgesöhnt", stellte ein palästinensischer Syrer fest.
Ein weiterer Palästinenser merkte an: "Jetzt wissen wir, warum in letzter Zeit so viele PLO-Delegationen Syrien besucht haben; sie wollten ihre Bindungen zu dem Regime erneuern und nicht etwa die Sicherheit unserer Flüchtlingscamps sicherstellen oder die Freilassung von Palästinensern, die in [syrischen] Gefängnissen festgehalten werden, fordern."
Andere beschuldigten die Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde, "das Blut von Palästinensern zu opfern." Sie betonten, dass das syrische Regime durch die Eröffnung der neuen Botschaft die PA dafür belohnt, dass sie der Not der Palästinenser in Syrien den Rücken zukehrt. Die Palästinenser beschwerten sich, dass die Diplomaten und Repräsentanten der PA in Damaskus, an die sie sich in der Vergangenheit um Hilfe gewandt hatten, ihre Hilferufe ignoriert hatten.
Internationale Medienkanäle berichten regelmässig über die "Wasserkrise" in palästinensischen Städten und Dörfern, insbesondere im Westjordanland. Das ist eine Geschichte, die sich nahezu jedes Jahr im Sommer wiederholt, wenn sich ausländische Journalisten auf die Suche nach einer Story begeben, die Israel in schlechtem Licht dastehen lässt. Und es gibt nichts Bequemeres, als Israel für die "Wasserkrise" im Westjordanland verantwortlich zu machen.
Wie viele westliche Journalisten haben sich jedoch schon einmal die Mühe gemacht, über die durstigen Palästinenser im Flüchtlingslager von Jarmuk in Syrien zu recherchieren? Weiss irgendjemand in der internationalen Gemeinschaft, dass dieses Lager bereits seit mehr als 720 Tagen ohne Wasserversorgung ist? Oder, dass das Camp schon seit drei Jahren über keine Stromversorgung verfügt?
Das nur acht Kilometer vom Stadtzentrum von Damaskus entfernt liegende Jarmuk ist das grösste palästinensische Flüchtlingslager in Syrien. Das heisst, es war einmal das grösste Lager. Im Juni 2002 lebten 112'000 Palästinenser in Jarmuk. Bis Ende 2014 hatte sich die Campbevölkerung auf weniger als 20'000 dezimiert. Medienquellen zufolge leiden viele der Bewohner an einer Vielzahl von Krankheiten.
Palästinenser fliehen aus dem Yarmouk Flüchtlingslager in der Nähe von Damaskus nach heftigen Kämpfen im September 2015. (Foto RT Screenshot) |
Diese Zahlen sind alarmierend, allerdings weder für die Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde, noch für die Mainstream-Medien oder "Menschenrechts"-Organisationen im Westen. Ebenso wenig läutet man die Alarmglocken wegen der mehr als 12'000 Palästinenser, die in syrischen Gefängnissen ihr Dasein fristen, ohne die Erlaubnis mit einem Rechtsanwalt oder Familienmitgliedern Kontakt aufnehmen zu dürfen. Unter diesen Verhafteten befinden sich 765 Kinder und 543 Frauen. Nach Auskunft palästinensischer Quellen sind in den vergangenen Jahren ca. 503 palästinensische Gefängnisinsassen unter der Folter gestorben.
Den Quellen zufolge wurden einige der palästinensischen Gefängnisinsassinnen von Vernehmungsbeamten und Wachen vergewaltigt. Huda, ein 19-jähriges Mädchen aus Jarmuk berichtete, sie sei, während sie 15 Tage lang in einem syrischen Gefängnis festgehalten wurde, nach wiederholten Gruppenvergewaltigungen schwanger geworden. "Manchmal vergewaltigten sie mich mehr als 10-mal am Tag", berichtete Huda und fügte hinzu, dass sie danach schwere Blutungen erlitt und das Bewusstsein verlor. In einem weiteren, einstündigen Bericht erzählte sie, dass sie drei Wochen lang zusammen mit den Leichen anderer, zu Tode gefolterter Gefangener, in einer Zelle verbringen musste.
Solche Geschichten schaffen es jedoch nur äusserst selten auf die Seiten der grossen Nachrichtenblätter im Westen. Auch werden sie nicht bei den Konferenzen der zahlreichen Menschenrechtsorganisationen oder gar vor den Vereinten Nationen diskutiert. Die einzigen palästinensischen Gefangenen, über die die Welt spricht, sind die in israelischen Gefängnissen. Die Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde lässt keine Gelegenheit aus, die Freilassung der von Israel gefangengehaltenen Palästinenser zu fordern, bei denen es sich meist um Terrorverdächtige oder gar solche handelt, die des Terrorismus eindeutig überführt wurden. Wenn es jedoch um Tausende Palästinenser geht, die in Syrien gefoltert werden, verhalten sich die Führer der PA in Ramallah mucksmäuschenstill. Der Genauigkeit halber sei erwähnt, dass die palästinensischen Gruppierungen der Fatah und der Hamas gelegentlich die syrischen Autoritäten wegen der Gefangenen kontaktiert haben – wie sich herausstellte, waren diese beiden Gruppen jedoch lediglich an der Herausgabe einiger ihrer Mitglieder interessiert.
Berichten aus Syrien zufolge befinden sich drei palästinensische Flüchtlingslager nach wie vor unter strenger Belagerung der syrischen Armee und ihrer palästinensischen Marionettengruppierungen. Jarmuk beispielsweise wird seit über 970 Tagen belagert, während das Flüchtlingslager Al-Sbeneh seit mehr als 820 unter Belagerung steht. Das Flüchtlingscamp Handarat erleidet bereits seit über 1.000 Tagen das gleiche Schicksal. Die meisten Einwohner dieser Camps wurden dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. In Jarmuk sind 186 Palästinenser verhungert oder aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung gestorben. Mehr als 70 % des Flüchtlingslagers in Daraa wurde durch wiederholten Beschuss durch die syrische Armee und andere Milizen vollständig zerstört.
Den Palästinensern in Syrien ginge es besser, wenn sie im Westjordanland oder dem Gazastreifen leben würden. Dann wären sie von der internationalen Gemeinschaft und den Medien längst bemerkt worden. Wenn die Journalisten aus dem Westen allerdings ihre Zeit mit Palästinensern vergeuden, die an den israelischen Kontrollpunkten im Westjordanland aufgehalten werden, und wenn sie die vom syrischen Militär auf die Wohngebiete in den Flüchtlingslagern in Syrien abgeworfenen Sprengstoff-Fässer einfach ignorieren, dann fragt man sich allmählich, wes Geistes Kind sie wirklich sind.
Khaled Abu Toameh ist ein preisgekrönter arabisch-israelischer Journalist und TV-Produzent.