In zunehmendem Maße versucht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, das Land nach Belieben zu regieren, wobei er oft selbst ein Minimum an formeller Rücksichtnahme auf sein Kabinett, das Parlament oder sogar seine eigene politische Partei vermissen lässt. (Foto von Adem Altan/AFP via Getty Images) |
"Unsere Vergangenheit lag in Asien, aber unsere Zukunft liegt in Europa!" So schilderte Mesut Yilmaz seine Vision für die Türkei in einer Podiumsdiskussion in Davos in den 1990er Jahren.
Damals war Yilmaz, der letzte Woche im Alter von 73 Jahren starb, einer der aufstrebenden Stars der türkischen Politik und einer Generation, die dazu bestimmt schien, eine Revolution zu vollenden, die in den 1880er Jahren im Osmanischen Reich begonnen hatte. Diese Revolution zielte darauf ab, das sterbende Reich in einen modernen Staat westlichen Stils umzuwandeln, der in der Lage war, mehr als ein Jahrhundert des Niedergangs umzukehren, das dem Kalifat den Beinamen "Kranker Mann am Bosporus" eingebracht hatte.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war jedoch klar geworden, dass der Aufbau eines modernen, auf westfälischen Prinzipien basierenden Staates nach europäischem Vorbild die Existenz einer Nation auch im europäischen Sinne voraussetzte; eine unmögliche Aufgabe, solange der osmanische Staat ein multinationales Imperium blieb, dessen Legitimität auf einer Religion beruhte, die per definitionem das Konzept eines Nationalstaates ausschließt.
Der Erste Weltkrieg und der Zerfall des Osmanischen Reiches boten den Raum, in dem die militärische und intellektuelle Elite unter der Führung von Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) eine Nation erfinden konnte, die zu dem modernen Staat westlichen Stils passte, den sie zu schmieden wünschte. Mit Hilfe französischer Sprachwissenschaftler nahm die neue Türkei ein neues, auf dem lateinischen basierendes Alphabet an, bereinigte ihre Sprache von möglichst vielen persischen und arabischen Wörtern und übernahm im Namen des Säkularismus die Kontrolle über religiöse Institutionen.
In den 1980er Jahren hatte die Türkei alle Vorzüge eines Nationalstaates westlichen Stils. Sie war auch ein geschätzter Verbündeter in der Nordatlantikpakt-Organisation und ein Kandidat für die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (später Europäische Union). Als Minister und dann dreimaliger Premierminister spielte Yilmaz eine entscheidende Rolle in den Verhandlungen mit den Europäern, oft mit einer Mischung aus Naivität und Pessimismus.
Yilmaz und seine Generation von türkischen Politikern ignorierten zwei Tatsachen.
Erstens hatte die post-Kalifat-Türkei zwar die Errungenschaften eines Nationalstaates westlicher Prägung erworben, war jedoch mit einem vormodernen, weitgehend ländlichen Wirtschaftssystem belastet, das auf staatlicher Kontrolle und Pachtmissbrauch basierte. Dank weitreichender Reformen, die von Turgot Ozal eingeleitet und von Recep Tayyip Erdogan, wenn auch unregelmäßig, fortgeführt wurden, gelang es der Türkei, ihre Wirtschaft auf den Weg der Modernisierung zu bringen, häufig durch die Übernahme von Kriterien, die von der Europäischen Union festgelegt wurden.
Die zweite Tatsache, die Yilmaz und seine Generation ignorierten, war ihr Versagen bei der Entwicklung einer modernen politischen Kultur, ohne die eine moderne Staatsstruktur und Wirtschaft im Dienste vormoderner und undemokratischer Narrative und Projekte benutzt und missbraucht werden konnte. Dies ist unter Erdogan in der letzten Phase seiner Saga geschehen. In dieser Phase hat Erdogan die Türkei von einem EU-Beitrittskandidaten und Anwärter auf einen vorderen Platz in der westlichen Welt verwandelt in einen Herausforderer, um nicht zu sagen Störenfried, mit einem zunehmend virulenten anti-westlichen Diskurs.
Diese Kursänderung hat zur Rückkehr einiger alter Dämonen geführt.
Der erste dieser Dämonen ist ein Autoritarismus der Art, wie er von Sultan Salim, dem umstrittensten osmanischen Kalifen, praktiziert wurde. Zunehmend versucht Erdogan, die Türkei auf Geheiß zu regieren, wobei er oft auch nur ein Minimum an formaler Achtung vor seinem Kabinett, dem Parlament oder sogar seiner eigenen politischen Partei vermissen lässt. Manchmal sind die Minister überrascht, wenn sie über die Medien und nicht über die offiziellen Entscheidungswege von neuen Entscheidungen erfahren. In einigen Schlüsselbereichen, vor allem in der Außenpolitik, hat Erdogan ein Muster persönlicher Politik etabliert, das eher einem Despotismus im Stile der Dritten Welt ähnelt als moderner demokratischer Politik.
Der zweite Dämon, der die türkische Politik wieder heimsucht, ist das Streben nach Legitimität auf der Grundlage religiöser Anmaßungen. So verkleidet sich Erdogan nun als "ghazi" (heiliger Krieger) und bezeichnet jeden, der es wagt, seine Politik herauszufordern, als "Feind des einzig wahren Glaubens".
Einige Kommentatoren, darunter auch dieser (mea culpa, maxima culpa), haben Erdogans Projekt als neo-osmanisch bezeichnet. Inzwischen ist jedoch klar, dass es sich bei dem, was er anbietet, um einen falschen Osmanismus und nicht um den alten Osmanen in neuen Schläuchen handelt. Das Osmanische Reich war ein multinationaler, multireligiöser Raum, der selbst in kulturellen, persönlichen und rechtlichen Bereichen oft ein gutes Maß an Vielfalt akzeptierte, wenn nicht sogar ermutigte, während Erdogan unter seiner Herrschaft die Fata Morgana der Konformität verfolgt.
Der dritte Dämon ist der des Imperium-Baus.
Als Imperium-Erbauer erster Güte waren die Osmanen stets darauf bedacht, nicht mehr zu beißen, als sie kauen konnten. Erdogan führt die Türkei jedoch in ein Reichsbildungsabenteuer, das sie nicht will und sich nicht leisten kann. Die Türkei ist jetzt tief in Zypern, Libyen, dem Balkan und seit kurzem auch in Transkaukasien verwickelt, wo sie einen direkten Konflikt mit Russland und dem Iran riskiert. Sie hat eine potenziell gefährliche Pattsituation mit Griechenland und Frankreich in der Ägäis provoziert und einen Krieg der Worte mit der Europäischen Union als Ganzes begonnen. Angeblich geht es bei dem Streit um die alten maritimen Demarkationslinien, die der Türkei das Recht verweigern, Öl- und Gasvorkommen unter Wasser anzuzapfen. Was Erdogan nicht erkennt, ist, dass der potenzielle Markt für diese Ressourcen genau die Europäische Union ist, die er jetzt zum Feind macht. Auf jeden Fall können die umstrittenen Ressourcen nicht ohne massive Investitionen aus dem Westen erschlossen werden, ganz zu schweigen von der notwendigen Technologie.
In Subsahara-Afrika versucht die Türkei mit einer Mischung aus Bestechung und religiöser Propaganda einen Fuß auf den Boden zu kriegen.
Erdogans Projekt zum Aufbau eines Imperiums hat ihn auch zu einer tieferen Auseinandersetzung mit den Überresten der Muslimbruderschaft geführt, und durch sie mit dschihadistischen Nattern, die eines Tages beschließen könnten, die Türkei selbst zu beissen. Erdogan kopiert die Khomeinisten, die ihre ausländischen Legionen im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen gebildet haben, und rekrutiert Söldner unter den Türken im Irak und den lokalen Dschihadisten in der syrischen Provinz Idlib.
Schließlich ist auch der Dämon der Korruption mit einem grossen Einstieg in die türkische Politik und Wirtschaft zurückgekehrt. Sicherlich gab es Korruption sowohl im Osmanischen Reich als auch in der kemalistischen Republik, die sie in Kleinasien ablöste. Aber in beiden Fällen wurden im Namen der religiösen Redlichkeit oder des nationalen Interesses gewisse Grenzen eingehalten. Jetzt jedoch überschreitet die Korruption alle Grenzen, sie überschreitet die alte Grenze, die in einer Studie der Vereinten Nationen in den 1970er Jahren festgelegt wurde, wonach sie zu einem Lebensstil und nicht mehr nur zu einer bloßen Verirrung wird.
Yilmaz und viele türkische Politiker seiner Generation erwiesen sich als falsche Prediger eines Evangeliums der Verwestlichung. Indirekt unterstützt von eurozentrischen Politikern wie Jacques Chirac, der "den Türken" immer noch als Bedrohung für das Christentum ansah, verpassten sie die Chance einer endgültigen Versöhnung mit einem Kontinent, zu dem die Türkei seit Jahrtausenden gehört.
Indem Erdogan für einen strategischen Bruch mit Europa wirbt, führt er die Türkei ins Ungewisse, mit Dämonen als Einflüsterern.
Amir Taheri war von 1972 bis 1979 Chefredakteur der Tageszeitung Kayhan im Iran. Er arbeitete bei, oder schrieb für, unzählige Publikationen, veröffentlichte elf Bücher und ist seit 1987 Kolumnist bei Asharq Al-Awsat.