Am 10. Oktober fielen wieder einmal Kurden in der Türkei einem Massaker zum Opfer – diesmal war es ein doppelter Selbstmordanschlag in Ankara, der Hauptstadt der Türkei, mitten in der Stadt.
Diesmal zerrissen die Explosionen eine friedliche Menge von Menschen, die sich vor dem Eingang von Ankaras Hauptbahnhof versammelt hatten, um im Rahmen einer Demonstration für "Arbeit, Frieden und Demokratie" ein Ende der Gewalt auszurufen.
Kurden und Vertreter der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) demonstrierten gemeinsam mit Anhängern linker Parteien und Gewerkschaftern – sie alle forderten Frieden und Demokratie. [1]
Laut dem türkischen Medizinerverband wurden mindestens 105 Menschen getötet und über 400 verletzt. [2]
Eines der Opfer, Meryem Bulut, war eine 70-jährige Teilnehmerin der "Samstags-Mütter"-Gruppe, die seit den 1990er Jahren Kundgebungen für ihre verschwundenen Söhne und Töchter abhält. Ein Enkelkind von ihr starb letztes Jahr in der jesidischen Stadt Sindschar, Irak, im Kampf gegen den IS.
Der neunjährige Veysel Atilgan hatte zusammen mit seinem Vater, Ibrahim Atilgan, an der Demonstration teilgenommen. Beide wurden durch die Detonationen getötet.
Ebenso schrecklich war das, was sich nach den Explosionen ereignete. Die Polizei verzögerte die medizinische Hilfe und griff Menschen, die den Verletzten zu Hilfe eilen wollten, mit Tränengas und Pfefferspray an, um sie zu verjagen. Nachdem die Regierung also sogar die Verletzten angegriffen hatte, ließ sie später ihr Militär und ihren Polizeiapparat auch noch auf die Kurden los, die kamen, um die Toten zu betrauern.
Orhan Antepli, Justiziar der Gewerkschaft der Staatsbediensteten im Gesundheits- und Sozialwesen (SES) im Bezirk Bursa, hat die Anschläge erlebt. Die Polizei setzte Tränengas gegen die Verletzten ein, sagt er, und erlaubte Notarztwagen nicht die Fahrt in das Gebiet:
"Auf der Straße sahen wir über zwei Kilometer lang keinen einzigen Polizisten. Ich war dort, wo sich die zweite Explosion ereignete. Auf dem Mantel der Person neben mir waren anschließend hundert Stücke menschlichen Fleisches von je einem Zentimeter Durchmesser."
Antepli sagt, er sei losgerannt, um den Verletzten zu helfen, doch die Polizei habe Notarztwagen nicht in das Gebiet durchgelassen: "Während ich einen verletzten Mann versorgte, fing die Polizei an, Tränengas einzusetzen. Sie haben die Straße gesperrt. Zwei oder drei Tränengasbomben wurden auf die Leute geworfen."
Unterdessen hielt der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu eine unglaubliche Ansprache:
"Wir haben erfolgreich eine durchschlagende Operation gegen den Terror durchgeführt. Dank unserer unermüdlichen Anstrengungen, die wir am 23. Juli begonnen haben, wurden die wichtigsten Kader des IS verhaftet oder ihre Kontakte unterbrochen ... Aber wenn man etwas außer der Reihe macht, dann gibt es in einem demokratischen Rechtsstaat Grenzen. Man darf niemanden ohne Grund festnehmen. Es gibt sogar eine Liste von Leuten, die in der Türkei Selbstmordanschläge verüben könnten. Wir beschatten sie, aber wenn wir etwas unternähmen, bevor sie ihre Taten ausführen, dann gäbe es wieder Proteste."
Die Türkei führt also Buch über potenzielle Selbstmordbomber, während Davutoglu ohne eine Miene zu verziehen, sagt, die Regierung – die viele Journalisten angegriffen und inhaftiert hat, die nur ihrem Beruf nachgingen und Gymnasiasten wegen regierungskritischer Tweets eingesperrt hat – solle diese "nicht ohne Grund" festnehmen. Die AKP ist die letzte Regierung, die über einen "demokratischen Rechtsstaat" sprechen sollte.
Unmittelbar nach den Bombenanschlägen von Ankara machten die türkischen Behörden den Islamischen Staat (IS) für die Tat verantwortlich. Doch als Reaktion darauf bombardierten türkische Kampfflugzeuge nicht etwa den IS; sie bombardierten die kurdische PKK, die den IS bekämpft. Nachdem die Regierung den jüngsten von der PKK ausgerufenen Waffenstillstand zurückgewiesen hat, griff die türkische Luftwaffe an.
Die PKK hatte in einer schriftlichen Stellungnahme erklärt, sie sei "zu dem Entschluss gekommen, die militärischen Aktionen gegen die Kräfte des türkischen Staates einzustellen, solange es von dessen Seite keine Angriffe gibt."
Die türkische Regierung scheint jedoch entschlossen zu sein, weiterhin Kurden zu töten, komme, was wolle. "Der Waffenstillstand der PKK hat für uns keine Bedeutung", erklärte ein hochrangiger Vertreter des türkischen Sicherheitsapparats der Nachrichtenagentur Reuters. "Die Operationen werden ohne Unterbrechung fortgesetzt."
Während das türkische Militär – wieder einmal – das PKK-Hauptquartier bombardiert, hat das Büro des Generalstaatsanwalts in Ankara eine Nachrichtensperre über die Ermittlungen in Zusammenhang mit dem Massaker verhängt.
Zudem erließ der staatliche Pressezensor, der Oberste Rundfunkrat (RTUK), ein Verbot, Bilder der Anschläge zu senden. Twitter, Facebook und andere soziale Medien, die schon früher zeitweilig verboten waren, waren überall in der Türkei nicht zu erreichen. So verhält sich ein repressiver Staat, wenn er Fakten unter dem Teppich halten will.
Als dann in Ankara viele Leute – darunter kurdische Parlamentsabgeordnete und Bürgermeister – gegen das Massaker demonstrieren wollten, setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas gegen sie ein. Einige der Demonstranten wurden verwundet und ins Krankenhaus gebracht. Vier wurden verhaftet.
Überall im türkischen Kurdistan gab es zahllose gewaltsame Übergriffe von Polizisten gegen Demonstranten. Die Polizei in Diyarbakir setzte neben Tränengas auch scharfe Munition ein. Berichten zufolge wurde ein Rettungswagen daran gehindert, zu Ahmet Taruk, 63, zu gelangen, der von Tränengas schwer verletzt wurde; er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Im Zuge von Polizeirazzien in Izmir wurden 66 Personen verhaftet.
Schließlich berichteten die türkischen Medien, dass die beiden Attentäter von Ankara als Mitglieder des IS identifiziert worden seien. Einer von ihnen, Omer Deniz Dundar, sei 2013 nach Syrien gegangen und 2014 in die Türkei zurückgekehrt. Acht Monate später soll er erneut nach Syrien gereist sein. Sein Vater sagte in einem Interview, dass er die Polizei mehrfach gebeten habe, seinen Sohn zurückzubringen, aber nichts habe ausrichten können.
Der andere Verdächtige, Junus Emre Alagoz, soll in seinem letzten Telefongespräch im Mai 2015 gesagt haben: "Dies ist das letzte Mal, dass wir miteinander sprechen." Der Anruf wurde von der Polizei aufgezeichnet. Sie verhörte Alagoz als "Verdächtigen", ließ ihn aber laufen.
Sein Bruder, Jusuf Alagoz, sagte, Yunus Emre Alagoz habe 2009 eine Schule in Afghanistan besucht, gefolgt von einer madrassah [muslimische theologische Schule] im Iran.
Ein weiterer Bruder, Seyh Abdurrahman Alagoz, soll am 20. Juli den verheerenden Selbstmordbombenanschlag von Suruc durchgeführt haben, bei dem 33 Menschen getötet wurden.
Man stelle sich für einen Augenblick vor, dass es tatsächlich so war, dass die beiden Terroristen das Massaker verübt haben, ohne das Wissen der türkischen Regierung, und dass die staatlichen Institutionen völlig unschuldig sind. Wo waren dann die Sicherheitskräfte, die den Opfern des Attentats hätten helfen sollen? Wo waren die Notärzte? Wo waren die Rettungswagen? Wo waren die Spezialkräfte und die Polizei, dass sie so schnell auf Kurden schießen konnten, nicht aber sie beschützen?
Die regierungstreuen Medien in der Türkei haben behauptet, dass die PKK der Urheber sei und gefordert, die HDP zur Rechenschaft zu ziehen. Sie kritisieren lediglich die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Anschläge – niemals die Anschläge selbst.
In der Türkei kann sonst bei Versammlungen nicht einmal eine Mücke fliegen, ohne dass die türkische Polizei sie anhält. Für diese Demonstration hingegen gab es keine Sicherheitsmaßnahmen; kein medizinisches Personal, keinen Schutz für die Demonstranten. Nach den Detonationen haben die Leute die Toten mit den Transparenten bedeckt, die sie mitgebracht hatten. Leute haben versucht, die Verletzten wiederzubeleben und selbst Schienen für ihre gebrochenen Knochen zu basteln.
Wer kann sagen, wie viele Menschen überlebt hätten, wenn sie das Tränengas nicht am Atmen gehindert hätte? Die Verletzungen waren so schwerwiegend, dass die Leute nicht einmal das Gebiet verlassen konnten – und die Polizei schoss mit Tränengas.
Nach dem Massaker sagte Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der Partei HDP:
"Sie versuchen, die Botschaft zu verbreiten: 'Wir können kommen und euch mitten in Ankara in Stücke zerfetzen.' Sie sind kurz davor zu sagen: 'Die HDP hat ihre eigene Demonstration in die Luft gesprengt.' Der Ministerpräsident hat eine halbe Stunde lang gesprochen; 20 Minuten davon hat er uns beschimpft und gedroht. Habt ihr gehört, dass er auch nur eine einzige Äußerung gemacht hat, in der er den IS verurteilt hat? Nein. Er droht uns noch immer. Ankara ist die Hauptstadt der Türkei. Hier fliegt kein Vogel, ohne dass der Staat von ihm weiß. In keiner anderen Stadt sind die Geheimdienste so massiert. Es gab eine Demonstration von 100.000 Menschen, aber keine Sicherheitsvorkehrungen wurden getroffen. Man schaue hingegen, wie es bei ihren eigenen Demonstrationen aussieht: Da gibt es Sicherheitsmaßnahmen noch zehn Straßen weiter. Da lagen hundert Leichen, fünfhundert waren verletzt. Und die hatten auch noch mit den Wasserwerfern der Polizei zu kämpfen. Ist das eure Gerechtigkeit?"
Während der Regentschaft der AKP-Regierung gab es ähnliche Massaker gegen Kurden in Roboski, Diyarbakir and Suruc. Und auch davor schon gab es, seit den 1920er Jahren, Massaker gegen Kurden. Keiner der Täter wurde je bestraft: Bei diesen Massakern sind die staatlichen Behörden selbst die Planer und Organisatoren.
Am 10. Oktober haben die Kurden und ihre Freunde versucht, ein Ende des Krieges auszurufen. Die Kurden proklamierten Frieden und Brüderlichkeit. Die Türkei antwortete, wie immer, mit Mord.
Uzay Bulut, als Muslimin geboren und aufgewachsen, ist eine türkische Journalistin und lebt in Ankara.
[1] Die Demonstration wurde organisiert vom Verband der Progressiven Gewerkschaften der Türkei (DISK), dem Verband der Kammern türkischer Ingenieure und Architekten (TMMOB), dem türkischen Medizinerverband (TTB) und dem Verband der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (KESK). Die Demokratische Partei der Völker (HDP) war einer der wichtigen Teilnehmer.
[2] Die Demokratische Partei der Völker (HDP) teilt in einer schriftlichen Erklärung mit, dass das Gesundheitsministerium keine Informationen über die Toten und Verletzten herausgibt und die Chefärzte der Krankenhäuser ausdrücklich Anweisung erhalten haben, keine Daten an die Öffentlichkeit zu geben.