Palästinenser befürchten, dass sie möglicherweise vor einer Rückkehr der Anarchie und "falatan amni", eines "Sicherheits-Chaos", stehen. Eine Reihe jüngster Vorfälle sind ein Zeichen für das Versagen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bei der Durchsetzung von Recht und Ordnung, insbesondere in den Flüchtlingslagern, wie z. B. Balata (bei Nablus), Qalandia (nahe Ramallah) und dem Flüchtlingslager von Dschenin.
Darüber hinaus sind diese Vorfälle ein Hinweis auf zunehmende Spannungen zwischen rivalisierenden Lagern innerhalb der Fatah sowie den Flüchtlingen und den Palästinensern, die die grossen Städte im Umland der Lager bewohnen.
Diese Lager, die wahre Brutstätten für bewaffnete Attentäter und Terrorgruppen darstellen, befinden sich schon seit Langem ausserhalb der Kontrolle der Sicherheitskräfte der PA. Zehntausende Palästinenser leben in diesen drei grössten Flüchtlingslagern im Westjordanland. Wenngleich sich die Flüchtlingslager in einer von der PA kontrollierten Region befinden, tun die Sicherheitskräfte ihr Bestes, um sie grossräumig zu umgehen. Versuche der palästinensischen Sicherheitskräfte, Lagerbewohner zu verhaften, die aufgrund verschiedenster Vergehen gesucht wurden, endeten häufig in bewaffneten Auseinandersetzungen.
Es sind meist aufgebrachte Anhänger der regierenden Fatah-Fraktion des PA-Präsidenten Mahmud Abbas, die für die Anarchie und das "Sicherheits-Chaos" verantwortlich sind. Viele der Mitglieder der Fatah sind ehemalige Angehörige des bewaffneten Arms der Fatah, der al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden, die unter dem Druck Israels und der internationalen Gemeinschaft – insbesondere der Amerikaner und Europäer, der grössten Förderer der Palästinensischen Autonomiebehörde – vor einigen Jahren offiziell zerschlagen wurden.
Diese Männer werfen der Führung der PA regelmässig vor, ihnen den Rücken zuzukehren und ihre Forderungen nach Arbeit und Geld einfach zu ignorieren. Ein kurzes Gespräch mit jungen Palästinensern – einschliesslich Mitgliedern der Fatah – in irgendeinem Flüchtlingslager im Westjordanland gibt nur allzu schnell Aufschluss über das zunehmende Gefühl, verraten worden zu sein. Und nein, diese Männer haben keine Angst, sich öffentlich gegenüber irgendeinem Fremden gegen Präsident Abbas und die Palästinensische Autonomiebehörde auszusprechen. In diesen Lagern scheint die PA als Feind auf einer Stufe mit Israel zu stehen. In ihren Augen ist die PA ein korruptes und unfähiges Organ, das von "Mafia-Führern" verwaltet wird. Andere betrachten die Palästinensische Autonomiebehörde als eine Schachfigur in den Händen Israels und der USA. Und was noch wichtiger ist: Viele der Lager-Aktivisten gehen davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Palästinenser eine Intifada gegen die PA starten.
Wir sollten uns jedoch nicht täuschen lassen: Diese Einzelpersonen empfinden keine Liebe für Israel. Nicht ein einziger von ihnen ist bereit, das "Recht auf Rückkehr" nach Israel abzutreten – nicht einmal, wenn ein palästinensischer Staat, mutmasslich innerhalb der Grenzen von vor 1967, errichtet würde. Und viele von ihnen sind Feuer und Flamme für einen "bewaffneten Kampf" gegen Israel.
Dennoch hat die Feindseligkeit gegen die Palästinensische Autonomiebehörde unter den Bewohnern der Flüchtlingslager eine bislang nie dagewesene Dimension erreicht. Unter den Flüchtlingen herrscht der Eindruck, dass die Führung der PA mehr oder weniger überhaupt nichts unternommen hat, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern und dass das eigentliche Geld an die grossen Städte wie Ramallah, Nablus, Bethlehem und Hebron geht.
"Die Palästinensische Autonomiebehörde wird von Dieben kontrolliert, denen wir völlig egal sind", beklagte sich Hassan Abu Ayyash, ein junger Mann aus dem Flüchtlingslager Al-Amari, der sich selbst als "Fatah-Aktivist" beschreibt.
"Sie erhalten Hunderte Millionen Dollar von der internationalen Gemeinschaft und verteilen sie unter sich und ihren Söhnen. Sehen Sie sich nur mal die grossen Gebäude und mondänen Restaurants und Bars in Ramallah an. Woher haben die all das Geld, um sich so teure Autos zu kaufen?"
Die Lagerbewohner haben nicht einmal Angst, ihrer Wut gegen führende Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde Luft zu machen.
Anfang der Woche fingen unbekannte Bewaffnete den Wagen des Sozialministers der Palästinensischen Autonomiebehörde, Ibrahim al-Schaer, auf dem Weg von Ramallah nach Jerusalem ab. Auf Höhe des Qalandia-Flüchtlingslagers wurde das Fahrzeug auf der Autobahn Ramallah/Jerusalem von den Bewaffneten gestoppt und der Fahrer aus dem Wagen gezerrt. Anschliessend flohen die Bewaffneten, vermutlich Angehörige der Fatah, mit dem Fahrzeug. Erst Stunden später gelang es den Sicherheitskräften der PA, das gestohlene Fahrzeug des Ministers ausfindig zu machen. Die Palästinenser sehen in der Autoentführung einen bedeutenden Rückschlag für das "Prestige" der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Bei einem Vorfall, der ähnliche Emotionen widerspiegelt, eröffneten unbekannte Bewaffnete das Feuer in einem Polizeirevier in der Ortschaft Yamun im nördlichen Westjordanland. Auch diesmal geht man davon aus, dass es sich bei den Verdächtigen um aufgebrachte Aktivisten der Fatah handelt. Einwohner von Dschenin waren der Ansicht, dass die Schiesserei den wachsenden Zustand des "Sicherheits-Chaos" in der Region sowie die Schwäche der PA bei der Bekämpfung dieses Problems widerspiegelt. Der Anschlag war der zweite dieser Art in ein und demselben Polizeirevier innerhalb der letzten Monate.
Im April diesen Jahres lieferten sich Sicherheitspersonal der Palästinensischen Autonomiebehörde und Angehörige des Jaradat-Clans einen erbitterten Schusswechsel im Flüchtlingslager von Dschenin. Der Zusammenstoss ereignete sich bei einem Versuch der Sicherheitskräfte, ein Mitglied des Clans festzunehmen. Zwei Menschen wurden dabei verletzt.
Letzten Monat stahlen maskierte Schützen aus einem der Flüchtlingslager am helllichten Tag ein palästinensisches Polizeifahrzeug im Stadtzentrum von Ramallah. Das gestohlene Fahrzeug wurde Stunden später der Polizei zurückgegeben, aber es wurde niemand verhaftet, weil dies nur weiteren Ärger für die Palästinensische Autonomiebehörde bedeutet und eine gewaltsame Konfrontation mit den Lagerbewohnern zur Folge gehabt hätte.
Nablus, die grösste palästinensische Stadt im Westjordanland, ist ein Beispiel für die zunehmende Anarchie im Westjordanland. Die Stadt ist von zahlreichen Flüchtlingslagern umgeben, die wirkungsvoll von Dutzenden Fatah-Gangs kontrolliert werden, die schon seit Langem die wohlhabenden Familien und führende Persönlichkeiten der Stadt terrorisieren.
Es gibt jedoch auch Gelegenheiten, bei denen offenbar rivalisierende Fatah-Anführer die aufsässigen Bewaffneten aus den Flüchtlingslagern anheuern, um ihre Probleme untereinander zu regeln. So zum Beispiel eröffneten Anfang des Monats Bewaffnete das Feuer im Haus von Ghassan Schakaa, dem ehemaligen Bürgermeister von Nablus und führenden Vertreter von PLO und Fatah. Bei dem Anschlag, der offenbar nur als Warnung für Schakaa dienen sollte, wurde niemand verletzt.
Schakaa gab später an, dass der Anschlag auf sein Haus im Rahmen "interner Rivalitäten" innerhalb der Spitze der Fatah-Führung erfolgt sei. Er war der Ansicht, dass der Anschlag dazu dienen sollte, ihn davon abzubringen, sich nochmals für das Amt zum Bürgermeisters von Nablus zur Wahl zu stellen. Schakaa, der seine tiefgreifende Frustration angesichts der Gesetzlosigkeit in seiner Stadt beklagte, sagte, dass die "Sicherheitslage im (von der Hamas kontrollierten) Gazastreifen besser sei als die im Westjordanland". Seine letzte Bemerkung wird als direkte Kritik an der Palästinensischen Autonomiebehörde betrachtet sowie an deren Versagen, die bewaffneten Schützen aus den Flüchtlingslagern im Zaun zu behalten.
Nach Auskunft einiger der engsten Berater von Mahmud Abbas sind die Szenarien der Rechtlosigkeit jedoch weit davon entfernt, spontaner Natur zu sein. Vielmehr werden sie, ihrer Meinung nach, von dem aus der Partei ausgeschlossenen und in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebenden ehemaligen Fatah-Politiker Mohammed Dahlan orchestriert. Diesen Beratern zufolge unterstützt Dahlan viele Fatah-Gangs in den Flüchtlingslagern im Westjordanland, um sich Loyalität zu erkaufen und eine Machtbasis für sich selbst zu schaffen.
Dahlan, so sagen sie, will unbedingt der Nachfolger von Präsident Abbas werden. Daher arbeitet er seit Langem daran, die Palästinensische Autonomiebehörde zu unterminieren und Anarchie und Uneinigkeit im Westjordanland zu verbreiten. Er will zeigen, dass Abbas die Kontrolle verliert und dass nur eine "starke" Gestalt wie Dahlan in der Lage ist, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Dahlan seinerseits weist allerdings alle Anschuldigungen zurück.
Die Rückkehr der Anarchie auf die Strassen der Städte im Westjordanland und die Flüchtlingslager ist für Präsident Abbas und sein Regime ein schlechtes Omen. Ausserdem ist sie das natürliche Resultat des Versagens der Palästinensischen Autonomiebehörde in den vergangenen zwei Jahrzehnten, als es darum ging, den Bewohnern der Flüchtlingslager eine realistische Hoffnung auf ein besseres Leben zu bieten.
Die PA hat, wie die meisten arabischen Länder, die Bewohner der Lager jahrelang angelogen und ihnen erzählt, sie sollten schön in ihrem Elend ausharren, da sie ja eines Tages wieder in die ehemaligen Häuser ihrer Familien in Israel zurückkehren werden. Neben diesem aussergewöhnlich aufwändigen Täuschungsaufwand hat die Palästinensische Autonomiebehörde die Bewohner der Flüchtlingslager ausserdem marginalisiert und so von jedem Prozess der Staatsbildung ausgeschlossen. Anscheinend haben die Bewohner jetzt genug davon. Abbas' Gerede von der Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates ist nur schwer mit dem "Sicherheits-Chaos" in den unter seiner Kontrolle befindlichen Territorien zu vereinbaren. Die Hamas steht dabei natürlich jubelnd am Spielfeldrand, während sie dabei zusieht, wie die von der PA kontrollierten Gebiete zur Hölle fahren.
Khaled Abu Toameh ist ein preisgekrönter arabisch-israelischer Journalist und TV-Produzent.