Wenige Stunden, nachdem seine Sicherheitsleute einen Untersuchungsgefangenen gelyncht hatten, drängte der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas, palästinensische Geschäftsleute im Ausland, die Wirtschaft mit Investitionen in den palästinensischen Gebieten zu unterstützen. Die PA, so versicherte er, "arbeitet daran, für Sicherheit zu sorgen, um Investitionen zu fördern."
Abbas meinte, "Die palästinensischen Gebiete sind einem Zustand von Sicherheit und Stabilität. Daran arbeiten wir für Bürger und Investoren gleichermassen, indem wir Rechtsstaatlichkeit gewährleisten und Transparenz und Verantwortlichkeit fördern."
Es muss schön sein, sich seine eigene Realität zu schaffen, insbesondere, wenn die wahre Realität die des 81-jährigen Abbas ist.
In seiner Rede vor den Geschäftsleuten unterschlug er jede Erwähnung der jüngsten Welle von "Sicherheitschaos" in von der PA kontrollierten Gebieten des Westjordanlandes, insbesondere in Nablus, der grössten palästinensischen Stadt.
Fünf Palästinenser, darunter zwei Polizeibeamte der PA, wurden bei den schlimmsten Vorfällen wechselseitiger Gewalt, die das Westjordanland in den vergangenen Jahren erlebt hat, getötet. Entweder hielt Abbas die Geschäftsleute für Idioten oder er hoffte, sie befänden sich – ebenso wie er – in einem Zustand von Taubheit und Blindheit.
Wer die Situation im Westjordanland in den vergangenen Monaten beobachtet hat, war von der Gewalt in Nablus nicht überrascht.
Tatsächlich gehören Szenen von Gesetzlosigkeit und "Sicherheitschaos" in vielen palästinensischen Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern zum Alltag – ein Zeichen dafür, dass die PA die Kontrolle zunehmend an bewaffnete Gangs und Milizen verliert. Palästinenser bezeichnen die Lage als falatan amni, oder "Sicherheitschaos". Ein im Juni veröffentlichter Artikel beschrieb eine Zunahme an Fällen von Anarchie und Gesetzlosigkeit in von der PA kontrollierten Gebieten des Westjordanlands, insbesondere in Nablus.
Die Palästinenser bezeichnen Nablus als den "Feuerberg" und beziehen sich damit auf die zahllosen bewaffneten Überfälle, die von Bewohnern der Stadt seit 1967 auf Israelis verübt wurden. Die aktuellen Ereignisse in Nablus haben jedoch gezeigt, wie leicht der Brandstifter selbst dem Feuer zum Opfer fallen kann. Die Palästinensische Autonomiebehörde zahlt nun den Preis für die Beherbergung, Finanzierung und Anstiftung von Bandenmitgliedern und Milizen, die bis vor Kurzem von vielen Palästinensern noch als "Helden" und "Widerstandskämpfer" gefeiert wurden. Es überrascht nicht, dass die meisten dieser "Banditen" und "Kriminellen" (wie die PA sie nennt) auf die ein oder andere Weise mit Mahmud Abbas' Fatah-Fraktion in Verbindung stehen.
Nablus, der sogenannte Feuerberg, droht nun zu einem Vulkan zu werden, der über den Häuptern von Abbas und seiner PA-Regierung ausbricht.
Die Situation in Nablus in den letzten Tagen wirft die ernsthafte Frage auf, ob die PA in der Lage ist, grundlegende Sicherheitsmassnahmen durchzuführen und bewaffnete Gangs und Milizen im Zaum zu halten. Zudem hat die beispiellose Gewalt das Vertrauen der Palästinenser in die PA und ihre Führung vor den Kommunalwahlen, die am 8. Oktober durchgeführt werden sollen, weiter erschüttert.
Der Traum der Hamas, ihre Kontrolle auf das Westjordanland auszudehnen, scheint nun realistischer denn je. Unter den gegebenen Umständen würde Abbas der Hamas das Westjordanland auf einem Silbertablett präsentieren – es sei denn, er erwacht und erkennt, dass er mit der Genehmigung der Kommunalwahlen einen grossen Fehler begangen hat.
Und die Geschäftsleute, die sich mit Abbas trafen? Man kann sich denken, dass sie klug genug sind, eine zum Scheitern verurteilte Investition zu vermeiden. Das wird mit Nablus zweifellos erreicht: sie werden sich aus dem Chaos in den von der PA kontrollierten Gebieten zurückziehen.
Die Dinge kamen ins Rollen, als am 18. August in der Altstadt von Nablus zwei Sicherheitsleute der Palästinensischen Autonomiebehörde, Shibli bani Shamsiyeh und Mahmoud Taraira, bei einer Auseinandersetzung mit Bewaffneten getötet wurden.
Einige Stunden später erschossen Polizeibeamte der PA zwei mutmasslich an der Ermordung der beiden Polizisten beteiligte palästinensische Bewaffnete. Die beiden wurden als Khaled Al-Aghbar und Ali Halawah identifiziert. Die Familien der beiden Männer beschuldigten die PA der "aussergerichtlichen" Tötung und behaupteten, ihre Söhne seien lebend gefasst und erst später erschossen worden. Die Familien forderten eine unabhängige Kommission zur Untersuchung der Umstände im Zusammenhang mit dem Tod ihrer Söhne. Palästinensische Menschenrechtsorganisationen schlossen sich der Forderung nach einer Untersuchung der Todesfälle an.
Im Juni waren zwei weitere Sicherheitsleute der PA, Anan Al-Tabouk und Uday Al-Saifi, ebenfalls bei einer Schiesserei mit Bewaffneten in Nablus getötet worden. Die PA behauptete, "Banditen" steckten hinter den Taten und schwor, die Täter zu bestrafen.
Die Spannungen in Nablus erreichten ihren Höhepunkt am 23. August, als mehrere Polizeibeamte der PA Ahmad Halawah lynchten, einen früheren Polizisten, den man verdächtigte, eine zur Fatah-Fraktion von Abbas gehörende, berüchtigte Gang anzuführen. Halawah wurde kurz nach seiner Verhaftung und der Überführung in das von der PA betriebene Jneid-Gefängnis in Nablus von Polizisten der PA erschlagen.
Die Führung der PA, die inzwischen zugegeben hat, dass Halawah von ihren Polizisten gelyncht wurde, gibt an, sie habe eine Untersuchung des Falles angeordnet. Ihre Führer haben den Lynchmord als "inakzeptablen" Fehler bezeichnet.
Der Lynchmord an dem Gefangenen löste verbreitet Proteste im Westjordanland aus und viele Palästinenser forderten eine unverzügliche Untersuchung der näheren Umstände des Falles und dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt würden.
Die palästinensische Anwaltskammer veröffentlichte eine Erklärung, in der der Lynchmord an Halawah als "Verbrechen und eine Verletzung der Menschenrechte" schärfstens verurteilt wird. Die Kammer verlangte, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und fügte hinzu: "Die bedauerlichen und schmerzlichen Ereignisse, darunter die Ermordung von Ahmed Halawah, dienen nicht dem Interesse der Bürger oder der Heimat und fördern die Spaltung unserer Gesellschaft." Sie rief die PA und ihre Sicherheitskräfte dazu auf, das Gesetz einzuhalten und die Menschenrechte der Palästinenser und ihre öffentlichen Freiheiten zu respektieren.
Alarmiert durch die massive Verurteilung des Lynchmords an Halawah begannen einige Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde, direkte und versteckte Drohungen gegen palästinensische Kritiker auszusprechen.
Der palästinensische Rechtsanwalt Wael Al-Hazam, der Abbas dazu aufrief, seine Sicherheitskräfte aus Nablus "abzuziehen", erhielt Besuch von bewaffneten Unbekannten, die sein Haus mit 14 Kugeln überzogen. Der Anwalt und seine Familie blieben bei dem bewaffneten Angriff unverletzt, der ganz offensichtlich eine Warnung an jeden war, der die Stimme gegen Menschenrechtsverletzungen von Seiten der Sicherheitskräfte der PA erhebt. Und in diesem Fall kam die Warnung an.
Kurz nach der Attacke auf sein Haus gab der Anwalt eine Erklärung heraus, in der er sagte, "14 Kugeln reichen aus, um mich zum Schweigen zu bringen. Ich bin ein Mann des Rechts und kann Gewalt nicht ertragen. Feder und Stimme sind die einzigen Waffen, die mir zur Verfügung stehen. Ich habe keine Milizen zu meiner Verteidigung." Der Angriff auf sein Haus erfolgte kurz nachdem Sicherheitsbeamte der PA den Anwalt bedroht und ihn davor gewarnt hatten, in einer Fernsehsendung aufzutreten, um über die jüngste Welle der Gewalt in seiner Stadt zu sprechen.
Der Aufruhr in Nablus veranlasste viele Palästinenser dazu, Abbas zu einer Verschiebung der bevorstehenden Kommunalwahl in ihrer Stadt aufzufordern. In einer Dringlichkeitssitzung am 25. August in Nablus kamen verschiedene Fraktionen und Persönlichkeiten der Palästinenser überein, dass es unter den gegebenen Umständen unmöglich sei, die Wahl durchzuführen.
Sarhan Dweikat, ein ranghohes Mitglied von Abbas' Fatah sagte, eine Verschiebung der Wahl sei nötig, um
"das soziale Gefüge zu schützen und unser nationales Projekt zu bewahren, das angesichts des Sicherheitschaos und der Anarchie in Nablus einer existenziellen Bedrohung gegenübersteht. [...] Die Zustände in Nablus bieten kein positives Klima für die Durchführung von Wahlen."
Man kann sich kaum vorstellen, dass der scheinbar von Wahnideen erfüllte Abbas Aufrufen zur Verschiebung der Kommunalwahlen Gehör schenkt. Sein lächerlicher Versuch, zu einem Zeitpunkt, an dem es in seinem Hinterhof brennt, palästinensische Geschäftsleute dazu zu überreden, ihr Geld in von der PA kontrollierten Gebieten zu investieren, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass dieser Mann sich weigert – oder unfähig ist – den Tatsachen ins Auge zu sehen.
Es ist derselbe Präsident, der von sich behauptet, sein Volk zur Souveränität und in eine bessere Zukunft führen zu wollen. Es ist unglaublich, aber Abbas kann womöglich die politischen Führer der Welt weiterhin dazu verleiten, zu glauben, er und die Palästinensische Autonomiebehörde seien bereit für die Souveränität. Das in Nablus und anderen palästinensischen Städten und Dörfern vergossene Blut ist jedoch ein offensichtlicher Beweis dafür, dass Abbas dabei ist, die Kontrolle über das Westjordanland zu verlieren, genau wie er 2007 den Gazastreifen an die Hamas verlor. Schien bisher die Hamas die grösste Gefahr für Abbas' Herrschaft über das Westjordanland zu sein, ist nun klar, dass dem nicht so ist. Die wahre Bedrohung, das macht das Blut im Westjordanland deutlich, kommt von den selbst herangezogenen, inzwischen zu Rebellen gewordenen, ehemaligen Loyalisten von Abbas.
Khaled Abu Toameh ist ein preisgekrönter arabisch-israelischer Journalist und TV-Produzent.