"Wenn Sie dachten, es sei eine Herausforderung für Frauen, Harvey Weinstein der Vergewaltigung zu beschuldigen, dann denken Sie auch daran, den islamischen Theologen Tariq Ramadan zu beschuldigen", schrieb Sylvie Kauffman, die ehemalige Redakteurin von Le Monde.
Tariq Ramadan, der Enkel des Gründers der Muslimbruderschaft, Hassan al-Bana, ist ein Schweizer Dozent für Islam mit Millionen von Anhängern und einer der "Männer des Jahres" des Time Magazine. Von drei Frauen der Vergewaltigung angeklagt, befindet sich Ramadan nun bei der französischen Polizei in Haft. Indem er die Vorwürfe der sexuellen Gewalt leugnet, hat sich sein #MeToo-Fall in eine politische und religiöse Angelegenheit verwandelt.
Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud fasste die Reaktion der arabisch-islamischen Welt auf die Ramadan-Affäre zusammen: "Schweigen, Unbehagen, Verlegenheit und Massenverschwörungstheorien".
Die muslimischen Gemeinden wissen wahrscheinlich, worum es im Fall Ramadan geht, den der muslimische Soziologe Omero Marongiu-Perria als "bröckelnden Mythos" bezeichnet hat. Doch wenn das Schweigen der Muslime und die Verteidigung von Tariq Ramadan etwas Bedauerliches ist, so ist das westliche Schweigen noch schlimmer.
Tariq Ramadan (Bildquelle: Internaz/Flickr) |
Ramadans ethnische und religiöse Identität wurde - wie immer häufiger (zum Beispiel hier, hier und hier) - als Teil seiner Verteidigung präsentiert. Nach den ersten sexuellen Anschuldigungen gegen Ramadan verteidigte Professor Eugene Rogan, Direktor des Middle East Centre in Oxford, wo auch Ramadan unterrichtet, seinen Kollegen. Ramadan, so Rogan, sei ein "prominenter Moslem".
Laut dem französischen Philosophen Pascal Bruckner "ist die Blindheit der Angelsachsen gegenüber dem politischen Islam erschreckend. In den Vereinigten Staaten, wie auch in Großbritannien, bringt Ihnen ein Angriff auf Tariq Ramadan eine Anklage wegen Rassismus ein".
130 Persönlichkeiten, darunter der Ökonom Thomas Piketty und die französische Feministin Caroline De Haas, haben das Verfahren gegen Ramadan als "eine politische Kampagne [definiert], die weit davon entfernt ist, die Sache der Frauen zu verteidigen, sondern die unserem Land eine destruktive Agenda des Hasses und der Angst aufzwingt".
Tausende von Menschen in Europa und Millionen in der arabischen Welt sind einfach nicht bereit zu akzeptieren, dass Tariq Ramadan von einem System demokratischer, westlicher und weltlicher Gerechtigkeit verurteilt und für schuldig befunden werden kann. Das ist die Frage, um die es geht: Werden wir Zeuge des Sieges der Extremisten über machtlose muslimische Frauen, die höchstwahrscheinlich nie wieder den Mut haben werden, ihre muslimischen Aggressoren anzuprangern? Dieser Wunsch, die Ungleichheit aufrechtzuerhalten, scheint der Grund dafür zu sein, dass enorme Summen gesammelt werden, um Herrn Ramadan zu verteidigen.
107.000 Euro wurden sofort gesammelt, um Ramadan zu verteidigen. Dann wurden in nur zwei Tagen weitere 26.000 Euro gesammelt.
Die Inhaftierung einer solchen Legende - des Enkels des Gründers der Muslimbruderschaft - hat in der französischen und schweizerischen muslimischen Gemeinde für Aufsehen gesorgt und eine mächtige Propagandamaschine mobilisiert. Zuerst wurde die Website "Free Tariq Ramadan" angelegt. Dann unterzeichneten 137.000 Menschen einen Aufruf, ihn freizulassen. Nadia Karmous, Leiterin der Vereinigung muslimischer Frauen in der Schweiz, bezeichnete den Theologen als "zuverlässige und fürsorgliche Person". Bei einem kürzlich in Bourget abgehaltenen "Jahrestreffen der Muslime Frankreichs" wurde ein "Unterstützungskomitee" für Ramadan ins Leben gerufen. Seine Bücher wurden verkauft, und die Leute sammelten Geld und unterschrieben Briefe an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und die Justizministerin Nicole Belloubet, die um die Freilassung ihres Idols baten.
Das Ziel scheint zu sein, Ramadan in einen Märtyrer zu verwandeln. Laut Asmar Lafar, dem Präsidenten der Organisation "Muslime Frankreichs", ist Ramadans Pensée ("Denken/Weltanschauung") trotz der Vorwürfe immer noch "intakt". Leute, die Plakate mit der Aufschrift "Free Tariq Ramadan" in die Höhe hielten, demonstrierten in Paris.
Einstweilen sind die drei Frauen, die Ramadan der Vergewaltigung beschuldigt haben, Ziele von Einschüchterung, Gewalt und Drohungen gewesen.
Ihre tägliche Hölle wurde von der französischen Wochenzeitung Marianne enthüllt. "Du bekommst nur, was du verdienst" ist eine der vielen Botschaften, die "Marie" (eine der beiden Frauen, die ein Pseudonym benutzt) jeden Tag erhält. Außer, dass diese Nachricht von einem von Ramadans Brüdern kam.
"Ich gehe immer weniger aus", sagte sie. Vor ein paar Tagen wurde sie auf der Straße angegriffen. "Dreckiges Miststück", schrien vier junge Männer sie an.
Eines Tages, als "Marie" ihren Sohn zur Schule brachte, hielt ein Auto an und der Fahrer rief: "Halt die Klappe und pass auf deine Kinder auf". Am 24. März wurde sie im Eingang ihres Hauses von zwei Männern brutal angegriffen, die sie verprügelten, mit Wasser besprühten und sagten: "Das nächste Mal wird es Benzin sein".
"Christelle", die zweite Frau unter einem Pseudonym, erhält E-Mails von Fremden mit "sehr spezifischen Informationen über ihr Privatleben und ihren Zeitplan".
Henda Ayari, die am 20. Oktober 2017 die erste Klage gegen Ramadan eingereicht hat, erhält keine Unterstützung mehr: "Meine Familie spricht nicht mehr mit mir". Ihr Name, ihre Telefonnummern und Adressen wurden in den sozialen Medien publiziert. "Ich kann nicht mehr einkaufen gehen", sagte Ayari, "ich kann nicht die Straße hinuntergehen, ich gehe mit Mütze, Sonnenbrille und mit gesenktem Kopf.... Ich habe keine [unterstützende] Nachricht von feministischen Organisationen erhalten", sagte sie zu Marianne.
Alle Aussagen sind ähnlich: "Telefonanrufe mitten in der Nacht, Menschen, die am anderen Ende des Telefons atmen oder lachen".
Sehr wenige sprechen über dieses #MeToo des Multikulturalismus oder über diejenigen, die Ramadans angebliche Opfer beschuldigen. Laut The New Yorker:
"Ayari, die Todesdrohungen erhalten hat, ist eine ehemalige Salafistin, die mit dem Islam gebrochen hat und eine hingebungsvolle Feministin und Säkularistin à la française geworden ist. Sie ist so etwas wie eine Heldin in den rechtsextremen Kreisen der Faschosphäre, wo Islamophobie eine Eintrittskarte ist".
Das "wahre" Problem ist also "Islamophobie", nicht die muslimische Unterwerfung von Frauen.
Tariq Ramadan hat großes Glück. Wenn er nach islamischem Recht gerichtet wird, wird er mit ziemlicher Sicherheit für unschuldig befunden werden. Im Islam ist das Zeugnis einer Frau vor Gericht nur halb so viel wert wie das eines Mannes (Koran 2:282). Wenn Ramadan für schuldig befunden wird, sollte er Frankreich für sein säkulares demokratisches Rechtssystem danken. Sonst würde er unter der Scharia wegen Ehebruchs gesteinigt werden, wie in Somalia. Nicht schlecht für ein "islamophobes" Land wie Frankreich. Ramadans angebliche Opfer haben weniger Glück. In jedem Fall müssen sie weiterhin in einer Gesellschaft leben, die sie nicht als Opfer, sondern als Feinde behandelt.
Giulio Meotti, Kulturredaktor für Il Foglio, ist italienischer Journalist und Autor.