Ein kürzlich ergangenes Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union scheint den EU-Mitgliedstaaten eine noch nie dagewesene Befugnis zu geben, den öffentlichen Diskurs online zu bestimmen — zu bestimmen, was die Bürger lesen dürfen und was nicht. Abgebildet: Der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg. (Bildquelle: Transparency International/Flickr) |
Am 3. Oktober hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in einem Urteil entschieden, dass Facebook von nationalen Gerichten der EU-Mitgliedstaaten angewiesen werden kann, diffamierendes Material weltweit zu löschen:
"Das Unionsrecht verwehrt es nicht, dass einem Hosting-Anbieter wie Facebook aufgegeben wird, mit einem zuvor für rechtswidrig erklärten Kommentar wortgleiche und unter bestimmten Umständen auch sinngleiche Kommentare zu entfernen.
Das Unionsrecht verwehrt es auch nicht, dass eine solche Verfügung im Rahmen des einschlägigen internationalen Rechts, dessen Berücksichtigung Sache der Mitgliedstaaten ist, weltweit Wirkungen erzeugt"
Das Urteil kam, nachdem die österreichische Politikerin Eva Glawischnig-Piesczek, Vorsitzende der Partei Die Grünen, Facebook Irland vor österreichischen Gerichten verklagt hatte. Nach Ansicht des Gerichtshofs der Europäischen Union:
"Sie [Glawischnig-Piesczek] beantragt, dass Facebook aufgetragen wird, einen von einem Nutzer dieses sozialen Netzwerks veröffentlichten Kommentar, der sie in ihrer Ehre beleidigt, sowie wort- und/oder sinngleiche Behauptungen zu löschen.
"Der in Rede stehende Nutzer von Facebook hatte auf seiner Profilseite einen Artikel des österreichischen Online-Nachrichtenmagazins oe24.at mit dem Titel "Grüne: Mindestsicherung für Flüchtlinge soll bleiben" geteilt, was auf dieser Seite eine "Thumbnail-Vorschau" von der ursprünglichen Website generierte, die den Titel dieses Artikels, eine kurze Zusammenfassung davon sowie ein Foto von Frau Glawischnig-Piesczek enthielt. Der Nutzer postete außerdem einen Kommentar zu diesem Artikel, der nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts geeignet ist, Frau Glawischnig-Piesczek in ihrer Ehre zu beleidigen, sie zu beschimpfen und zu diffamieren. Dieser Beitrag konnte von jedem Nutzer von Facebook Service abgerufen werden."
Das Urteil hat bei Redefreiheitsorganisationen Besorgnis ausgelöst. Thomas Hughes, der Geschäftsführer von ARTIKEL 19, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für den "Schutz des Rechts auf Redefreiheit in der ganzen Welt" einsetzt, sagte:
"Dieses Urteil hat erhebliche Auswirkungen auf die Redefreiheit im Internet auf der ganzen Welt.
"Wenn Social-Media-Plattformen wie Facebook gezwungen werden, Beiträge unabhängig vom Kontext automatisch zu entfernen, wird dies unser Recht auf Redefreiheit verletzen und die Informationen, die wir online sehen, einschränken...
"Das Urteil bedeutet auch, dass ein Gericht in einem EU-Mitgliedstaat die Entfernung von Social-Media-Posts in anderen Ländern anordnen kann, auch wenn sie dort nicht als rechtswidrig gelten. Dies würde einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen, in dem die Gerichte eines Landes kontrollieren können, was Internetnutzer in einem anderen Land sehen können. Dies könnte Tür und Tor für Missbrauch öffnen, insbesondere durch Regime mit schwacher Menschenrechtsbilanz."
Laut ARTIKEL 19:
"Das Urteil bedeutet, dass Facebook automatisierte Filter verwenden müsste, um Social-Media-Posts zu identifizieren, die als "identische Inhalte" oder "gleichwertige Inhalte" gelten. Die Technologie wird verwendet, um Inhalte zu identifizieren und zu löschen, die in den meisten Ländern als illegal gelten, z.B. Bilder von Kindesmissbrauch. Diese Entscheidung könnte jedoch dazu führen, dass Filter verwendet werden, um Textbeiträge nach diffamierenden Inhalten zu durchsuchen, was problematischer ist, da sich die Bedeutung von Text je nach Kontext ändern könnte. Obwohl das Urteil gesagt hat, dass nur Inhalte entfernt werden sollten, die im Wesentlichen mit dem ursprünglichen rechtswidrigen Beitrag übereinstimmen, ist es wahrscheinlich, dass automatisierte Filter Fehler machen werden."
Das Urteil "untergräbt den seit langem bestehenden Grundsatz, dass ein Land nicht das Recht hat, seine Gesetze zur Redefreiheit einem anderen Land aufzuzwingen", kommentierte Facebook in einer Erklärung.
"Es öffnet auch die Tür zu Verpflichtungen, die Internetunternehmen auferlegt werden, Inhalte proaktiv zu überwachen und dann zu interpretieren, wenn sie mit Inhalten gleichwertig sind, die sich als illegal erwiesen haben."
Die Entscheidung "erlaubt im Wesentlichen einem Land oder einer Region zu entscheiden, was Internetnutzer auf der ganzen Welt sagen dürfen und auf welche Informationen sie zugreifen können", sagte Victoria de Posson, Senior Managerin in Europa bei der Computer & Communications Industry Association, einer Branchengruppe, der Google und Facebook als Mitglieder angehören.
Das Urteil scheint in der Tat eine Büchse der Pandora für den immer kleiner werdenden Raum der Redefreiheit in Europa und möglicherweise weltweit zu öffnen, obwohl zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar ist, wie sich das Urteil auf die Redefreiheit weltweit auswirken könnte.
In Europa gibt es seit langem Bemühungen der Regierungen, die Redefreiheit zu zensieren: In Deutschland verlangt das am 1. Oktober 2017 in Kraft getretene umstrittene Zensurgesetz NetzDG von Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter und YouTube, ihre Nutzer im Auftrag des Bundes zu zensieren. Social-Media-Unternehmen sind verpflichtet, Online-"Straftaten" wie Verleumdung, Aufwiegelung oder Hetze innerhalb von 24 Stunden nach Erhalt einer Benutzerbeschwerde zu löschen oder zu blockieren. Social-Media-Unternehmen erhalten für kompliziertere Fälle sieben Tage Zeit. Andernfalls kann die Bundesregierung gegen sie Geldbußen bis zu 50 Millionen Euro wegen Nichteinhaltung des Gesetzes verhängen.
Das neue Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union könnte vermutlich bedeuten, dass ein deutsches Gericht anordnen könnte, was es nach dem NetzDG für rechtswidrig oder gleichwertig hält, in anderen EU-Mitgliedstaaten, die kein ähnlich drakonisches Zensurgesetz haben, löschen zu lassen.
Frankreich plant, ein ähnliches Gesetz wie in Deutschland zu erlassen: Anfang Juli verabschiedete die französische Nationalversammlung einen Gesetzesentwurf, der darauf abzielt, die Online-Hassrede einzuschränken. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass Social-Media-Plattformen 24 Stunden Zeit haben, "hasserfüllte Inhalte" zu entfernen oder Geldstrafen von bis zu 4% ihres weltweiten Umsatzes zu riskieren. Der Gesetzesentwurf ist an den französischen Senat gegangen. Sollte der Gesetzesentwurf in Kraft treten, könnte das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union bedeuten, dass französische Gerichte von Facebook verlangen können, dass Facebook das entfernt, was die Gerichte als illegale Inhalte oder deren Entsprechung nach französischem Recht ansehen.
Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union scheint den EU-Mitgliedstaaten eine beispiellose Befugnis zu geben, den öffentlichen Diskurs online zu bestimmen — zu bestimmen, was die Bürger lesen dürfen und was nicht. Es bleibt natürlich abzuwarten, wie das Urteil in der Praxis von den nationalen Gerichten der EU-Mitgliedstaaten ausgelegt wird, aber die Aussichten für die Zukunft der Redefreiheit in Europa sehen jetzt noch düsterer aus.