Während sich der Staub in Gaza und Israel nach einem relativ langen Krieg legt, bietet die gegenwärtige Waffenruhe eine gute Gelegenheit zu untersuchen, aus welchen Gründen die Hamas den Konflikt dieses Sommers überhaupt erst begonnen hat.
Von vielen Beobachtern wurde die Aufhebung der israelischen Sicherheitsblockade um Gaza, ein erklärtes Ziel der Hamas, als Zweck ihres Krieges benannt. Die Blockade war ursprünglich errichtet worden, um den Schmuggel von Waffen in den Gazastreifen zugunsten der Hamas – die bereits in Raketen und Waffen schwimmt – zu verhindern.
Israels Blockade existiert nur, weil die Hamas den Gazastreifen in ein schwerbewaffnetes Terrorlager verwandelt hat. Daher ist der Gedanke wenig überzeugend, dass die Hamas davon ausging, durch das Abfeuern von tausenden Raketen und Versuche, Todesschwadronen durch Untergrundtunnel nach Israel zu senden, Israel irgendwie dazu zwingen zu können, die Blockade zu lockern und so weitere Angriffe auf Israel vereinfachen.
Nichtsdestotrotz glaubte die dreiköpfige Hamas-Führung – bestehend aus Khaled Meshal, der Chef der Bewegung im katarischen Exil, sowie den beiden Anführern des militärischen und des politischen Flügels in Gaza – möglicherweise an ihre eigene Fähigkeit, Konzessionen von Israel durch Gewalt zu erzwingen.
Was sonst hat also die Hamas dazu gedrängt, den Krieg zu starten?
Angehörige der israelischen Sicherheitskreise sagen, dass die starke regionale Isolierung und die zunehmende wirtschaftliche Notlage die Terrororganisation dazu drängte, bereits vor Monaten einen Krieg zu planen. Nachdem die Schmuggeltunnels, die Gaza mit dem ägyptischen Sinai verbinden, von Kairo blockiert wurden, wandte sich die Hamas an ihren Erzrivalen in Ramallah, PA-Präsident Mahmud Abbas, und willigte in eine "Einheitsregierung" ein, um eine alternative Route für die Gelder der internationalen Gemeinschaft an die 40'000 Hamas-Angestellten zu finden. Abbas jedoch weigerte sich, Gelder an die Hamas zu überweisen.
Danach begann die Hamas, für den Krieg mit Israel zu planen. Offenbar hoffte die Hamas, aus ihrem Arsenal von 10'000 Raketen, einem Netzwerk von grenzüberquerenden Tunnels für Überfälle durch Hamas Todesschwadronen nach Israel und Überfälle durch eine Marinekommandoeinheit Kapital zu schlagen. Doch Israels Militär und Nachrichtendienste machten die meisten Angriffe unwirksam.
Die Terrororganisationen in Gaza verloren über 1000 Kämpfer und ungefähr 1000 palästinensische Nichtkombattanten wurden ebenfalls getötet. Über 300'000 Einwohner von Gaza wurden Binnenflüchtlinge, als ihre Häuser und Wohnviertel von der Hamas in Militärbasen verwandelt und infolge von Israel als Selbstverteidigung angegriffen wurden.
Der einzige Erfolg der Hamas bestand darin, dass sie ihre Raketenangriffe auf Israel für zwei Monate aufrechterhalten und in der Arena der internationalen Medien Punkte gegen Israel erzielen konnte. Dennoch war der Krieg aus Sicht der Hamas nicht zwingendermassen eine komplette Niederlage.
Zwei zentrale Sorgen scheinen die Hamas-Führer nachts am Einschlafen zu hindern: einerseits die Möglichkeit, dass ein müdes palästinensisches Volk die Idee eines fortwährenden Kriegs gegen Israel irgendwann aufgeben wird und dass damit der Jihad der Hamas eines Tages flackert und erlischt. Zweitens die Angst (durch den Aufstieg von Sisi in Ägypten akuter geworden), dass eine Koalition aus regionalen Kräften, angeführt durch Israel und Ägypten, mit der Fatah kooperieren und die Hamas aus Gaza verjagen wird. Das könnte die Entscheidung der Hamas für den Krieg im Juli erklären.
Die blutigen Auseinandersetzungen der Hamas haben einen doppelten Zweck: erstens sind sie der Treibstoff, mit denen die Hamas das Nationalbewusstsein der Palästinenser anheizt, um den brennenden Hass aufrechtzuerhalten, und um sicherzustellen, dass die Palästinenser sich weiterhin als im Krieg mit Israel und die Hamas als Soldaten dieses Kriegs und deshalb als ihre Beschützer sehen.
Zweitens marginalisieren solche Kriege den Rivalen der Hamas in Ramallah, die von der Fatah dominierte Palästinensische Autonomiebehörde PA, welche die Hamas oftmals als israelischen "Kollaborateur" darzustellen versucht.
Den bewaffneten Konflikt am Leben zu erhalten – ohne Rücksicht auf die Kosten für Gaza – ist der Zentralbestandteil der Überlebensstrategie der Hamas. Mehr als andere wünscht sich die Hamas, dass die Fackel des Jihads weiterbrennt, um sie an die nächste palästinensische Generation weiterzugeben. Nichts hält die Flamme des Jihads am Brennen und sichert die Popularität der Hamas mehr wie regelmässige Kriege. Lange, zeitlich unbegrenzte Waffenruhen, so die Befürchtung der Hamas, könnten den Konflikt in eine Art Winterschlaf versetzen und das wiederum könnte zu einer langfristigen politischen Einigung mit Israel führen.
Im Lexikon der Hamas sind Waffenruhen und Feuerpausen gleichbedeutend mit Wiederbewaffnung und Reorganisierung, sowie der Vorbereitung des nächsten Angriffs auf Israel. Vertreter des israelischen Sicherheitsestablishment gaben ihre Hoffnung Ausdruck, dieses Muster erfolgreich gebrochen zu haben und dass sie vielleicht endlich eine ordentliche Periode der Ruhe erreichten, dank des hohen Preises, den die Hamas für die Aggression im Sommer zahlen muss.
In der Zwischenzeit wird der militärische Flügel der Hamas, die Izzedine-Al-Qassam-Brigaden, höchstwahrscheinlich die Fabriken zur Raketenproduktion reaktivieren, die einheimische Waffenindustrie in Gaza expandieren und nach Wegen suchen, um neue und bessere Waffen aus Iran in den Streifen zu schmuggeln. Die 16'000 Mann starke Hamas Guerilla-Terrorarmee wird Raketenabschüsse, vollautomatisches Gewehrfeuer, Scharfschützen- und Mörserangriffe, das Platzieren von Bomben an der Grenze und Abfeuern von Schultergestützten Waffen (RPGS etc., Anm. Audiatur-Online) trainieren. Sie wird vermutlich auch weiter versuchen, Terrortunnels zu graben.
Die Anführer von Hamas und Islamischem Jihad werden in ihren Untergrundbunkern sitzen und Khaled Meshal wird in Fünfsternehotels in den Golfstaaten sitzen und nach neuen Wegen suchen, um den Israelis zu schaden, und neue Angriffspläne schmieden für den Moment, wenn die Zeit ihrer Ansicht nach reif ist für einen neuen Konflikt.
Die IDF wiederum wird sich ebenfalls auf diesen Moment vorbereiten.
Aus der Perspektive der Hamas ist Krieg der einzige Weg um sicherzustellen, dass die Palästinenser nicht von der Hamas-Ideologie der endlosen Konfrontation und ihrer politischen Reichweite abweichen. Letztendlich bleibt die Hamas-Fantasie einer Verdrängung Israels zur Errichtung eines radikalislamistischen Staates im Zentrum all ihrer Aktivitäten.
Die Hamas sähe gerne, wie ihre islamistischen Verbündeten die angrenzenden arabischen Staaten übernehmen, um mit ihnen einen pan-islamisches Kalifat zu etablieren. Ihre langfristigen Ambitionen sind ununterscheidbar von jenen des Islamischen Staates oder Al Qaida.
Ein entscheidender Aspekt der Hamas-Strategie besteht noch immer darin, die Kinder Gazas einer systematischen Indoktrinierung auszusetzen, sie sowohl mit einem genozidalen Hass auf Israel und einem Verlangen nach "Märtyrertum" bei Angriffen auf Israelis auszufüllen. Solche Aufhetzung zu Hass und Gewalt in allen Medien und dem Bildungswesen Gazas produziert bereits die nächste Generation von Soldaten für die Kriege der Hamas. Zugleich macht sie jegliche Aussicht auf einen Frieden mit Israel in absehbarer Zeit zunichte.
Jetzt wird die Hamas auf ihr nächstes Ziel fokussieren – den Versuch, ihre Präsenz im Westjordanland zu stärken, um irgendwann die Palästinensische Autonomiebehörde zu stürzen, wie sie es in Gaza vormachte. Wie eine Untersuchung des Shin Bet (israelischer Inlandgeheimdienst, Anm. Audiatur) kürzlich ergab, plante eine grosse, im Westjordanland vor kurzer Zeit aufgedeckte Hamas-Formation einen gewalttätigen Staatsstreich, um die PA zu stürzen und das Westjordanland zu übernehmen.
Danach würde die Hamas eine zweite Raketen- und Mörserbasis errichten, die Zentralisrael ins Visier nehmen würde im Versuch, die Tel Aviv-Region zu paralysieren. Würde sich die israelische Armee aus dem Westjordanland zurückziehen, könnte die Hamas einen solchen Coup einfacher in die Realität umsetzen. Israels Militärpräsenz sichert die Existenz der PA, welche den Abzug Israels fordert – genau das, was die PA am meisten bedrohen würde.
In der Zwischenzeit kann die Hamas leider weiter viel Leiden verursachen – insbesondere unter ihrer eigenen Bevölkerung.