In den 1970er und 80er Jahren wurde Europa von einem Krieg terrorisiert, den bewaffnete kommunistische Gruppen wie Baader/Meinhof in Deutschland oder die Roten Brigaden in Italien ausgerufen hatten. Terroristen schienen dazu entschlossen zu sein, die Demokratie und den Kapitalismus zu unterminieren. Sie verübten Anschläge auf Dutzende von Journalisten, Staatsbeamte, Professoren, Ökonomen und Politiker; in Italien entführten und töteten sie 1978 sogar den ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro.
Die große Frage lautete damals: "Wie groß ist die 'Grauzone'?" – nämlich die Menge der Sympathisanten des Terrorismus in den Fabriken, Gewerkschaften und Universitäten.
Im letzten Jahr haben die Schergen des Islamischen Staates Hunderte von Europäern und Westlern massakriert. Ihr letzter Anschlag in Brüssel traf das Herz des Westens: das postmoderne Mekka der Nato und der Europäischen Union.
Wir sollten nun dieselbe Frage stellen: Wie groß ist die "Grauzone" des Islamischen Staates in Europa?
Peggy Noonan versuchte kürzlich im Wall Street Journal, darauf eine Antwort zu geben:
"Man nimmt an, dass es 1,6 Milliarden Muslime auf der Welt gibt. ... Gehen wir einmal davon aus, dass auch nur zehn Prozent dieser 1,6 Milliarden negative Gefühle gegenüber 'dem Westen' hegen, den Wunsch haben, die Ungläubigen auszumerzen oder auf die Neugründung des Kalifats hoffen. Diese zehn Prozent entsprächen 160 Millionen. Nehmen wir an, dass nur zehn Prozent dieser Gruppe zum Dschihad tendieren. Das sind 16 Millionen. Angenommen, dass wiederum nur zehn Prozent von diesen es wirklich ernst meinen, also tatsächlich zu Dschihadisten werden bzw. Dschihadisten mit Hilfe und Unterstützung versorgen würden. Das sind 1,6 Millionen."
Das ist eine Menge.
Laut dem von der BBC erstellten ComRes-Bericht haben 27 Prozent der britischen Muslime Sympathien für die Terroristen, die das Charlie Hebdo-Büro in Paris angegriffen haben (12 Tote). Eine ICM-Umfrage, die von Newsweek veröffentlicht wurde, brachte zutage, dass 16 Prozent der französischen Muslime den IS unterstützen. In der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen steigt dieser Anteil auf 27 Prozent. In Dutzenden französischen Schulen wurde die "Schweigeminute" zum Gedenken an die ermordeten Charlie Hebdo-Journalisten durch muslimische Schüler gestört, die dagegen protestierten.
Wie tief reicht die Beliebtheit des IS in Belgien? Sehr tief. Die genaueste Studie ist ein Bericht von Voices From the Blogs. Sie hebt die hohe Zahl an Sympathiebekundungen für den IS in Belgien hervor. Für den Bericht wurden zwei Millionen arabische Botschaften über die Taten des IS im Nahen Osten analysiert, die über Twitter, Facebook und Blogs verbreitet worden waren.
Die enthusiastischsten Kommentare über den IS kommen aus Katar (47 Prozent Zustimmung), gefolgt von Pakistan (35 Prozent); schon an dritter Stelle kommt Belgien: 31 Prozent der geposteten Kommentare waren zustimmend. Das sind mehr als in Libyen (24 Prozent), Oman (25 Prozent), Jordanien (19 Prozent), Saudi-Arabien (20 Prozent) und dem Irak (20 Prozent). Diese schockierenden Daten belegen den Erfolg des Netzwerks und wie leicht die Rekrutierung für den IS in Belgien ist.
Die entsprechenden Zahlen für einige andere europäischen Staaten: Großbritannien 24 Prozent, Spanien 21 Prozent, Frankreich 20 Prozent.
In Großbritannien hat einer von fünf Muslimen Sympathien für das Kalifat. Heutzutage gehen mehr britische Muslime zum IS als zur britischen Armee.
In den Niederlanden brachte eine Umfrage von Motivaction zutage, dass 80 Prozent der in dem Land lebenden Türken "nichts Falsches" am IS sehen.
Unter jungen europäischen Muslimen beträgt die Unterstützung für Selbstmordanschläge: 22 Prozent in Deutschland, 29 Prozent in Spanien, 35 Prozent in Großbritannien und 42 Prozent in Frankreich, laut einer Pew-Erhebung.
Der Beliebtheitsgrad des IS in der arabischen Welt ist schon von vielen Umfragen ermittelt worden. Das Clarion Project etwa hat einen Bericht veröffentlicht, der sich auf viele Quellen stützt: eine im März 2015 durchgeführte Umfrage des Irakischen Unabhängigen Instituts für Studien zur Verwaltung und Zivilgesellschaft; eine im November 2014 durchgeführte Erhebung von Zogby Research Services; eine Umfrage des Arab Center for Research and Policy Studies von November 2014, sowie eine Umfrage von Oktober 2014, die vom Fikra Forum durchgeführt wurde. Das Ergebnis: 42 Millionen Menschen in der arabischen Welt sympathisieren mit dem IS.
Nach dem Massaker bei Charlie Hebdo führte Al-Jazeera eine Umfrage durch: "Unterstützen Sie die Siege des IS?" 81 Prozent der Teilnehmer stimmten mit "ja".
Auch wenn diese Umfragen und Studien mit Vorsicht behandelt werden müssen, zeigen sie doch alle eine tiefe und starke "Grauzone", die den islamischen Dschihad in Europa und dem Nahen Osten nährt. Wir sprechen hier von Millionen von Muslimen, die Sympathien, Verständnis und Nähe gegenüber der Ideologie und den Zielen des IS zeigen.
Der englische Wissenschaftler Anthony Glees, der sich mit politischem Radikalismus beschäftigt hat, sagt über die "Grauzone", die Deutschlands Bader-Meinhof-Terrorgruppe einst hatte: "1977 hatte das Bundeskriminalamt eine Terroristendatenbank, die die Namen von etwa 4,7 Millionen Verdächtigen und Sympathisanten enthielt, viele von ihnen Universitätsstudenten."
Die Terroristenführer der damaligen Zeit kamen allesamt aus guten deutschen Familien: Andreas Baader war der Sohn eines Geschichtsprofessors; Ulrike Meinhof die Tochter eines Kunsthistorikers und selbst eine bekannte Journalistin; Gudrun Ensslin war die Tochter eines evangelischen Pfarrers; Horst Mahler war der Sohn eines Richters.
Der Islamische Staat kann heutzutage in den muslimischen Gemeinschaften Europas auf eine viel tiefere Grauzone von Sympathisanten zählen.
Während Baader/Meinhof bei ihrem Krieg gegen das "Schweinesystem" bestimmte politische Figuren ins Visier nahmen, befinden sich die Freiwilligen des Kalifats in einem Krieg gegen alle "kuffar" (Ungläubigen). ISIS-Anhänger zielen in Paris auf Restaurant-, Theater- und Stadionbesucher. Ein Café in Kopenhagen, in dem eine Debatte über Ausdrucksfreiheit und Islam stattfand, westliche Touristen in einem Badeort in Tunesien und Pendler an der U-Bahnstation Maelbeek zählen ebenso zu den Zielen wie Reisende am Brüsseler Flughafen.
Für den IS handelt es sich um einen ewigen Krieg im Namen des Propheten. Wie Graeme Wood in seinem Aufsatz "What ISIS Really Wants" erklärt hat, "dürstet" es dem IS "nach Völkermord ... und er betrachtet sich selbst als den Wegbereiter und Protagonisten des bevorstehenden Endes der Welt".
Ein Buch, das Ivan Rioufol, ein Journalist der Tageszeitung Le Figaro gerade auf Französisch veröffentlicht hat und das den passenden Titel "Der kommende Bürgerkrieg" trägt, beschreibt die Gefahren der "apokalyptischen Ideologie" des radikalen Islam in Europa. Wie viele Muslime in Europas riesiger "Grauzone" werden mit dem IS-Virus infiziert werden? Von der Antwort könnte unsere Zukunft abhängen.
Giulio Meotti, Kulturredakteur der italienischen Tageszeitung Il Foglio, ist ein italienischer Journalist und Buchautor.